Naturkundliche Literatur ist in England Tradition. “Nature Writing” heißt diese Gattung. Robert Macfarlane ist ein zeitgenössischer Vertreter dieses Genres. Er widmet ganze Bücher alten Wegen, Hohlwegen oder Bergen. In “Karte der Wildnis” geht es nicht um eine spezielle Landschaftsform, sondern um die Beschaffenheit von Landschaft.
Dieses Buch handelt von der Suche nach wilder Natur: abgelegenes, karges, möglichst von Menschenhand unberührtes Terrain. Nicht irgendwo am Ende der Welt, sondern in der Heimat des Autors: England, Schottland, Irland. Doch wo anfangen? Im Straßenatlas finden sich keine Anhaltspunkte. Jedoch in alter Literatur seiner Vorgängerinnen und Vorgänger sowie in Berichten zeitgenössischer Schriftstellerkollegen, wie etwa die seines Freundes Roger Deakin, der das ganze Land schwimmend erkundete!
Von Norden nach Süden, wandernd bei Tag und Nacht, Wind und Wetter, alleine und zusammen mit Weggefährten geht Robert Macfarlane den wilden Landschaften der britischen Inseln auf den Grund. Seine Reise beginnt im Buchenhain vor der Haustür in Cambridge, führt über Inseln, Täler, Moore, Wälder, Flussmündungen, Gipfel, Berggrate und Sturmstrände und wieder zurück zum Buchenhain.
Damit Du eine leise Ahnung davon bekommst, was Dich erwartet, liste ich locker ein paar Stichworte, die ich mir beim Lesen mit Seitenzahl notiert habe, um sie später bei Bedarf wiederzufinden: Kletterqualitäten verschiedener Baumarten, Bedingungen für gelungene Nachtwanderungen, wie sich die Welt anfühlt, Weg des Mondlichts durchs Weltall, biologische Hintergründe der Feuersbrunst des Herbstes, die Buche als Überlebenskünstlerin, die Tiefe des Nachthimmels, Erklärungen für das Streben in die Höhe, was der Boden uns über das Gehen lehrt, von der Besonnenheit und Geduld der Bäume, der Wald als Leuchtkasten, Landkarten-Steine und Zuneigung zu bestimmten Landschaften. Eine kleine Auswahl der manchmal recht ungewöhnlichen Betrachtungen und Sichten in diesem Buch. Es kommt einem der Begriff “exzentrisch” in den Sinn; obwohl … auf dem Bild im Klappentext macht Robert einen recht vernünftigen Eindruck. Wobei: Ein verrücktes “Huhn” kommt vor!
Die Vision zu Beginn der Expedition ist unberührte Landschaft. Für den Forscher bedeutet Wandern jedoch vom Offensichtlichen abweichen. Wieder zurück im Buchenhain hat sich seine Vorstellung von Wildnis verändert: “Diese Wildnis ist nicht von Schroffheit bestimmt, sondern von Üppigkeit, Vitalität, Vergnügen.” Und die findet er eben nicht nur in Regionen am Rand der Zivilisation, sondern auch in einer Felsritze, umfasst von Straßen und Gebäuden, am Stadtrand oder gar … im Auto des besagten verrückten “Huhns”, im Buchenhain vor der Stadt und … im Wind, im Licht, im Regen sowie in den Farben der Blätter eines Baumes im Herbst.
Wie kommt es zu diesem neuen Blick? Einmal vor Ort wird schnell klar: Unberührte Natur gibt es so gut wie gar nicht mehr. Selbst in einsamem Terrain stößt Macfarlane auf zum Teil uralte, aber manchmal auch gar nicht so historische Spuren von Menschen! Das führt zu einer weiteren Besonderheit des Buches. Der hier schreibt, ist nicht mit romantisch, verklärtem Blick unterwegs, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte. Im Gegenteil: Neben dem Schönen räumt der Autor auch dem Hässlichen Platz ein. Seine Schilderungen von Unterdrückung, Hungersnöten, Krieg oder Verschmutzung abgelegener Strände sind harte Brüche in den gefühlvollen Naturbeschreibungen; eine von der Leserin jedes Mal unerwartete Kante hinter der sich statt eines Abgrunds eine Tragödie auftut. Emotionale Achterbahn.
So wird aus einem der auszog, um das “grimmig Ursprüngliche” auszukundschaften und eine Karte davon anzulegen im Laufe des Buches ein Erforscher des „nahegelegenen Unentdeckten“. Als Heimatwanderin macht dieser Wandel ihn mir verständlicher Weise total sympathisch!
Und dann ist da noch das schriftstellerische Können! Der Literaturwissenschaftler schreibt auf eine Art und Weise, dass Du meinst, Du läufst mit ihm durch den Schneesturm, mummelst Dich von Felsen geschützt auf einer Bergkuppe in den Biwaksack ein oder gehst in den Rillen und Windungen eines durch Kalksandstein geformten Untergrunds.
“Jeden Tag geraten Menschen durch diese Art von Begegnung in Verzückung: Begegnungen, deren Kraft, uns zu rühren, sich weder beschreiben noch verleugnen lässt.” Ich kenne diese Verzückung! Ich habe eine Vorstellung vom Glück, wenn abends kurz vor Sonnenuntergang das Licht durch die Wolken bricht; an einem Berghang auf der Erde sitzend. Und dem Autor gelingt durchaus das Kunststück dieses Empfinden, das ich mit einem Allgemeinplatz, wie “mein Herz hüpft” beschreiben würde, in erstaunlich bodenständige Worte zu fassen: “… in den Bergen … wird einem klar, was man in der Stadt nicht begreift, dass … Licht und Wärme und Freundschaft gut sind.”
Übrigens: Nicht zuletzt ist “Karte der Wildnis” natürlich ein Must-have für alle Freundinnen und Freunde der wilden Natur auf den britischen Inseln!!!
MacFarlane, Robert: Karte der Wildnis, Ullstein, 2. Auflage 2018
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