Im Rück­blick war ich mir bis vor Kurzem sehr sich­er: Der Pfad ver­läuft unmit­tel­bar an der Kante. Ein Grat. Zur linken Seite Abgrund. Senkrecht abfal­l­en­der Fels. Mehrere 100 Meter nach unten. Zur recht­en Seite knieho­he Latschenkiefern. Die Pas­sage min­destens 100 Meter lang. Der weit­ere Ver­lauf des Weges ist zunächst nicht ein­se­hbar und daher ungewiss. So die erin­nerte Sit­u­a­tion, die mich im Som­mer 2014 an meine Gren­ze brachte.

Bei ein­er Wan­derung zur Krin­nen­spitze im Tannheimer Tal (2000 m) geri­et ich uner­wartet in eine Block­ade. Die Höhenangst hat­te mich das erste Mal so richtig gepackt. Nichts ging mehr. In meinem Gedäch­n­tis war genau dieses oben geschilderte Bild von der Sit­u­a­tion gespe­ichert, wo ich damals kapit­ulierte, in der grellen Sonne fast blind verzweifelt auf meinem Handy­dis­play herum­tatschte, zum Glück irgend­wie meinen Mann erre­ichte,  der außer Sicht war, auf­grund meines Hil­fer­ufes zurück­kam und mich an der Hand weit­er führte.

Sechs Jahre später. August 2020. Inzwis­chen habe ich meine Angst vor Abgründe wieder auf einen nor­malen Respekt vor Tiefe zurück­ge­fahren, habe die neue Frei­heit mehrmals auch in den Hochalpen erfol­gre­ich über­prüft und gebe mein Wis­sen und meine Erfahrung an andere Men­schen weit­er, denen es ähn­lich geht, wie mir damals. Es ist an der Zeit. Ich bin bere­it, mich der Sit­u­a­tion an der Krin­nen­spitze ein zweites Mal zu stellen. Ich mache mich auf, meine in den let­zten Jahren gewonnene Sicher­heit im Umgang mit Tiefen wieder mal im Hochge­birge und vor allem mein Gedächt­nis auf den Prüf­s­tand zu stellen. Ich will wis­sen, ob die Bilder in meinem Kopf mit der Real­ität übere­in­stim­men oder ob ich mir die damals wahrgenommene Gefahr die ganzen Jahre einbildete.

Der Test-Tag lässt sich gut an. Im war­men Mor­gen­licht schwebe ich mit der ersten Ses­sel­lift­fahrt des Tages aufwärts zur Krin­nenalpe. Steige oben aus und zack habe ich die imposante Wand unter­halb der Krin­nen­spitze und das von hier unten noch klitzek­leine Gipfelkreuz direkt vor den Augen. Mein Herz schlägt ein Tick­en schneller. Anfangs ist der Weg noch bre­it. Dann ste­he ich am Abzweig zum Alpen­rosen­steig. Wie 2014. Das alte Schild wurde durch einen neuen gel­ben Weg­weis­er, wie er im All­gäu typ­isch ist, erset­zt: Krin­nen­spitze via Alpen­rosen­steig, 1.15 Stun­den Gehzeit. Rote Markierung. Mit­tlerer Schwierigkeits­grad. Eigentlich kein Hex­en­werk. Mit ruhigem Schritt steige ich den Zick­za­ckp­fad in meinem Tem­po bergan. Durch dunkel­grüne, robuste Latschenkiefern, durch­set­zt von ros­troten Alpen­rosen. Im oberen Drit­tel taucht unter meinen Füßen der blaue Haldensee auf. Vis à vis die grauen Gipfel des Tannheimer Tals: Läufer­spitze, Schartschro­fen, Gim­pel. Schäfer, Keller­spitze. Alle­samt plus­mi­nus 2000 Meter See­höhe. Der Pfad wird im let­zten Drit­tel fel­siger, aus­ge­treten­er und ver­läuft mit ein­er Kehre unmit­tel­bar auf den Abgrund zu. Ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen.

Dann dichter­er Bewuchs mit Latschen. Daran merke ich: Ich bin oben. Jet­zt müsste doch die Felse­necke kom­men, hin­ter der sich damals unver­mit­telt die Kluft auf­tat. Doch ich ent­decke diese Schlüs­sel­stelle beim besten Willen nicht, die sich in mein Gedächt­nis einge­bran­nt hat. Stattdessen macht der Pfad eine leichte Biegung und vor mir liegt ein Pfad, der tat­säch­lich recht knapp an der Kante ent­langläuft. Allerd­ings geht es jen­seits davon nicht senkrecht hinab, son­dern angeschrägt, ver­set­zt und mit Bewuchs. Noch! Und anders als ich es mir in den let­zten Jahren vorgestellt habe, ist das Gelände bis hin zum Gipfel kom­plett ein­se­hbar: Die Pas­sage, deren Anblick mich damals erstar­ren ließ und die mein Gehirn im Gedächt­nis als ewig langes Hor­rorszenario abge­spe­ichert hat, ist aller­höch­sten 30 Meter lang. Die Latschen zur Recht­en sind inzwis­chen hüfthoch. Aber ich kann trotz­dem schon von hier aus gut erken­nen, dass sich das Ter­rain auch zu dieser Seite hin zu einem mod­er­at abfal­l­en­den Grashang öffnet und dass der Pfad hin­ter dem Latschen­hain von der Kante abwe­icht. Zurecht. Denn erst dort fällt die Fel­swand tat­säch­lich gute 200 Meter nahezu senkrecht ab; bevor sie sich in ein­er Geröll­halde mit Bewuchs fängt, die auf Höhe der Krin­nenalpe ober­halb des bre­it­en Wan­der­wegs, wo ich heute Mor­gen stand und nach oben blick­te, in grün­er Wiese san­ft aus­läuft. All‘ das nehme ich jet­zt bewusst wahr. Denn ich füh­le mich ruhig und gelassen. Ich kann den Blick schweifen lassen bis zu meinem Ziel. Mit der neu gewon­nen Ruhe erkenne ich Details und die Gipfel­stürmer, die schon oben angekom­men sind, bemerke die Blüm­chen am Weges­rand und ent­decke in der Ferne den Hochvo­gel am Gren­zgänger, wo ich let­ztes Jahr wan­derte. Das Gipfelkreuz der Krin­nen­spitze liegt nun fast auf Augenhöhe.

Der Gratweg dor­thin – per­sön­lich erin­nert­er Hor­rorab­schnitt inklu­sive Gras­berg­pas­sage — heißt übri­gens Gams­bock­steig!!! Das las ich eben erst auf der Karte bei mein­er Recherche der Höhen­meter und der Beschaf­fen­heit des Ter­rains für diesen Artikel. Anders als damals im Som­mer 2014 passiere ich den Gams­bock­steig bei mein­er zweit­en Bege­hung im August 2020 selb­st­ständig und mit sicherem Gang bis ganz nach oben.

Damit nicht genug. Nach meinem Schock­er­leb­nis vor sechs Jahren stiegen wir zur Grän­er Öde­nalpe ab und gin­gen in ein­er großen Schleife vor­bei an idyl­lis­chen Kuh­wei­den auf bre­it­em Weg zurück. Ver­ständlich. Bloß schnell raus aus der Todeszone“, dachte ich damals. Mit mein­er neuen Zuver­sicht bin ich mutiger und wage den direk­ten Abstieg zurück zur Krin­nenalpe in west­lich­er Rich­tung. Weit­er im Felsen. Im ersten Augen­blick frage ich mich zwar, wo man denn da gehen soll. Der Ein­stieg zum Abstieg direkt unter dem Gipfel ist im steil abfal­l­en­den Felsen bei ober­fläch­lich Betra­ch­tung für mich kaum auszu­machen. Doch ein rot­er Punkt – Weg­marke in weglosem Gelände – führt Schritt für Schritt zuver­läs­sig nach unten. Die Route bleibt steinig und zu bei­den Seit­en aus­ge­set­zt und ich bei mir und ganz bei der Sache. Set­ze mir Zwis­chen­ziele. Weit­er. Schritt für Schritt. An einem ganz kurzen, schmalen wie ein Schwe­be­balken geformten Felsen muss ich mich kurz sam­meln bevor ich den ersten Fuß drauf­set­ze. Dann richte ich mich auf und bal­anciere auf 1900 Meter See­höhe mit drei, vier Schrit­ten rüber auf die sichere Seite. Geschafft! Der Rest ist wun­der­schöne Aus­sicht nach Süden. Vom mit schrof­fen Alpengipfel gesäumten Hor­i­zont wan­dert mein Blick beim Absteigen über liebliche Almen runter zum Boden des Tannheimer Tals. Wie eine Spielzeug­welt liegen Häuser und Straßen zu meinen Füßen.

Wieder am Ses­sel­lift angekom­men suche ich mir einen beque­men Fels­block, packe meine Ves­per aus, nehme einen kräfti­gen Schluck aus der Wasser­flasche und lasse das ger­ade erlebte Aben­teuer sack­en. Wieder und wieder schaue ich die Fel­swand hin­ter mir hoch, wo ich noch vor zwei Stun­den unter­wegs war und erstaunt fest­gestellt habe, wie verz­er­rt mein Gedächt­nis das alte Erleb­nis doch gespe­ichert hat­te. Ich bin sehr froh, dass ich diese zweite Bege­hung gemacht habe, die Bilder in meinem Kopf ger­adegerückt und sog­ar einen Schritt weit­er wie damals gegan­gen bin und eine neue Pas­sage erkun­den kon­nte. Dieses Mal mit Berggenuss und Hap­py End.

Ein Wahnsinns-Gefühl völ­liger Entspan­nung und Gelassenheit.