Mein linker Fuß steht schräg auf einer Felsrinne. Das Körpergewicht habe ich so verlagert, dass Druck auf ihn ausgeübt wird. Er steht fest. Mit beiden Händen halte ich mich am Drahtseil fest, lasse den rechten Fuß runter gleiten, taste nach der nächsten Steinstufe und stelle ihn ab. Körpergewicht nach rechts verlagern. Jetzt bin ich so weit unten, dass ich mich mit dem linken Bein ganz lang mache und der linke Fuß schließlich den Boden des Felsgrats berührt; zunächst nur mit den Spitzen. Mit der rechten Körperseite gebe ich etwas zu, dann steht die komplette Fußsohle auf. Ich fasse am Seil nach, belaste links und hebe den rechten Fuß zum Boden. Dann hake ich die Karabiner aus dem Sicherungsseil aus und drehe mich zur Wand um die eigene Achse. „Gut gelöst, Heike!“ Bergführer Andy strahlt mich an. Ich strahle Bergführer Andy an. Yeah!
An diesem sonnigen Morgen Ende August sitzt ein Helm auf meinem Kopf. An Oberschenkel und Po ein Klettersteiggurt mit Sicherungssystem. Eine Art Überhose. Zusätzlich bin ich über ein dünnes Seil und Profiknoten mit meinem Bergführer verbunden. Das alles, weil ich mitten im Hindelanger Klettersteig stehe. Auf einem ca. 1,5 Meter breiten Felsband. Rechts rund 500 Meter unter mir die Hochfläche Koblat. Linker Hand 1000 Meter plus tiefer das Retterschwanger Tal. Das erste Mal im Leben! Auf dem Hindelanger und überhaupt auf einem Klettersteig.
Der Klettersteig ist ein Meilenstein auf meinem Weg in die Schwindelfreiheit. Beziehungsweise eigentlich das Ziel. Von langer Hand geplant nach einer Reihe von Trainings-Unternehmungen über mehrere Jahre hinweg. Vom Turm auf dem Heimberg über den Gratweg vom Allgäuer Fellhorn zum Söllereck. Dazwischen weiter ge- und bestärkt durch Expeditionen über die Geierlay Hängebrücke im Hunsrück, einer Wanderung zum Sonnenkopf über dem Illertal und immer wieder Aussichtstürme, Aussichtstürme und Aussichtstürme. Ich bin bereit für exponiertes Neuland!
Jetzt will ich wissen, wo ich stehe; ob ich über den Berg bin mit der Höhenangst. Ein Faktencheck in eigener Sache eben!
Der Klettersteig ist keine Mutprobe. Wie auch in meinen Kursen und Coachings geht es um gelingende Erfahrung! Das Risiko habe ich so weit wie möglich minimiert.
Punkt 1: Das Vertrauen in mich selbst ist nach dem langen Training derart gefestigt und stabil, dass ich grundsicher bin, mit allem umgehen zu können, was da an ausgesetzter Tiefe auf mich zukommen könnte. Punkt 2: Ich weiß, was ich nicht kann. Als blutiges Klettersteig-Greenhorn und geborener Sicherheits-Freak habe ich mir deshalb die obligatorische Ausrüstung geliehen und dazu einen erfahrenen Bergführer an meine Seite geholt, den ihr oben schon kennengelernt habt.
„Mein lieber Herr Gesangsverein!“, fährt es mir durch den Kopf, als nach den ersten Metern ein Pi mal Daumen 10 bis 15 Meter hoher Turm aus Fels ins Blickfeld rückt. Ich so: “Da also rüber?” Andy so: ” Exakt.” Ich so: “Nicht drum herum?” Andy so: “Nein, oben drüber!” Ich so: Schluck. Während wir an der Leiter warten, bis wir an der Reihe sind, schaue ich über beide Schultern in die Tiefe. Alles gut. Ich atme ruhig. Bevor ich den ersten Step auf die untere Trittstufe mache, steigt Andy vor und erklärt Schritt für Schritt die einzelnen Handgriffe. Dann bin ich dran. Karabiner einhaken, hochsteigen, mit dem linken Arm um den Tritt sichern, Karabiner einen nach dem anderen umsetzen, weiter hoch und so weiter. Dann bin ich oben. Um auf den Felsen zu gelangen, muss ich mich mit beiden Füßen auf zwei „dünne” Streben stellen. Heidenei! Ich schließe kurz die Augen. Konzentriere mich auf den Moment. Sammle mich mental und steige dann entschlossen auf die Eisenstangen. Andy reicht mir seine Hand und mit dem nächsten Schritt bin ich on top. Richte mich auf. Atme tief ein und aus. Spüre Standsicherheit in den Beinen. Läuft! Strahle wie ein Honigkuchenpferd. High five!
So in der Art geht das die nächsten vier Stunden weiter. Den ersten Notausstieg aufs Koblat lassen wir rechts liegen, erreichen den Gipfel des Westlichen Wengenkopfs (2235 Meter). Dort ist Zeit und Muße zum Essen fassen. Vor allen Dingen haben wir hier endlich Augen für das Szenario um uns herum: Im Westen die 3000er und 4000er der Schweiz, der Säntis schon mit Schnee. Die Wolken am sonst wolkenlosen Himmel markieren den Bodensee. Im Osten die Zugspitze. Zum Greifen nah der Hochvogel und die Promis der Allgäuer Hochalpen: Mädelegabel, Trettachspitze, Hochfrottspitze, Kratzer, Krottenkopf, Schneck. Im Süden oberhalb des Oytals gut zu erkennen die Obere Lungenalpe. Dort bin ich am Tag zuvor auf meiner Wanderung über den Hahnenkopf nach Gerstruben im Trettachtal eingekehrt. Unter meinen Füßen alte Bekannte aus Höhenangst-Zeiten: im Norden das Burgberger Hörnle, der Grat zum Rubihorn, der Steineberg am Nagelfluhkamm mit einer 17 Meter hohen Leiter, die ich damals umging; im Süd-Westen der Hohe Ifen. Selbst dem rotweißen Sendemast auf dem Grünten-Gipfel könnten wir theoretisch auf den Kopf spucken. „Hier will ich für immer sitzen bleiben.“, schwärme ich. Der Bergführer brummelt. Okay. Spätestens beim nächsten Schnee würde ich es mir vermutlich anders überlegen. Aber gerade haut es mich aus den Socken.
Wir kraxeln weiter. Karabiner rein. Karabiner raus. Seilversicherte Stellen wechseln sich mit ungesicherten Passagen ab, wo laut Andy „eigentlich nichts passieren kann“. Na gut, denke ich. Ansichtssache. Ich freue mich über meine Schwindelfreiheit, genieße die Routine, die sich allmählich einstellt und spüre aber auch peu à peu meine Mittelgebirgsmuskulatur. Tatsächlich bringen mich nicht die Tiefen an meine Grenzen. Sogar die Gämsen weit, weit unten in der der Steilwand schaue ich mir entspannt an. Nein, nicht die Höhenangst macht mir zu schaffen, es ist die Kletterei, die mir so einiges abfordert. Immer wieder sind hohe Felsabsätze zu überwinden. Dann heißt es, Stufe für einen Fuß finden und mit Schwung das eigene Körpergewicht samt Rucksack nach oben wuchten. Auf die Dauer geht das in Beine und Hände. Als der zweite Notabstieg unterhalb des Östlichen Wegenkopfs in Sichtweite kommt, bin ich ehrlich gesagt erleichtert. Aber in den Alpen darf man sich was Distanzen betrifft nichts vormachen: „Noch 1,5 Stunden Klettern bis dorthin.“, klärt mich der Bergführer auf. Und dann wartet noch ein steiler Abstieg über einen alpinen Geröllpfad und rund 1 Stunde Fußmarsch zurück zur Bergstation auf uns. Ich lerne meine Lektion. Klettersteig gehen heißt auch seine Kräfte gut kennen und angepasste Routenplanung.
Zum Glück bin ich zäh und besitze hohe Ausdauerkondition.
Was ein Tag! Was ein Abenteuer! Was ein Erlebnis!
Abends bin ich platt. Aber am nächsten Tag studiere ich schon wieder mit der Topokarte auf dem Schoß neugierig vom Tal aus die Silhouette des Klettersteigs: Hinter dem Rubihorn die Gipfelstation des Nebelhorns. Die Felszacken vor der markanten Spitze des Westlichen Wegenkopfs. Dann die Steinrücken mit Spalten, die mich in ihrer Mächtigkeit noch von hier unten aus schwer beeindrucken. Da bin ich rüber- und durchgestiegen?! Jepp. Bin ich. Am Ende des längeren Grats sind wir runter. Erst aus dieser Perspektive realisiere ich die Tragweite meiner Klettersteig-Aktion. Ich war ganz schön mutig.
Zum Mutig-sein hilft mir ein bestimmter Gedanke. Ich nenne ihn Faktencheck-Gedanke. Er motiviert in Momenten, wo der Mut droht einen zu verlassen, weil Du mit Dingen konfrontiert wirst, die zunächst über alle Vorstellungskraft gehen.
Der Faktencheck-Gedanke heißt: Mach‘ Dir selbst ein Bild. Mit den Augen. Mit den Händen. Mit den Füßen. Mit dem Kopf. So werden die Dinge (be)greifbar. So erhält das Gehirn über die Sinnesorgane die relevanten Informationen, die es in die Lage versetzen, zuverlässig und lösungsorientiert seine Arbeit zu tun. Wenn das Gehirn keinen konkreten Input über die Aufgaben erhält, die es erledigen soll, quittiert es früher oder später seinen Dienst. Der Mut geht flöten. Unsere Gehirne sind für aktives, konkretes Machen gemacht. Mut braucht direkte Wahrnehmung. Überlegungen, Vorstellungen, Visualisierungen ohne Bezug zur Realität sind Augenwischerei; eine mentale Fata Morgana sozusagen.
Auch bei der Entscheidung für den Hindelanger Klettersteig hat mir der Faktencheck-Gedanke geholfen: Erst wenn ich im Steig wäre, würde ich sehen was Sache ist! Also los! Auch auf dem Grat habe ich ihn immer mal wieder aus der Tasche gezogen. Zum Beispiel als ich den Felsenturm sah, realisierte, dass der Weg nicht drum herum, sondern oben drüber geht und kurz dachte, was mache ich hier eigentlich? Heike! Faktencheck! Gehe hin, schaue es Dir genauer an. Schritt für Schritt. Dadurch habe ich die Möglichkeiten gesehen, die sich tatsächlich boten: Wo und wie ich mich festhalten kann. Wo und wie die Karabiner zum Sichern eingesetzt werden. Wie man direkt am Fels stehend die Tiefen mit Blicksteuerung perfekt aus dem Sichtfeld halten kann. Unmittelbar an der Leiter die Fakten geprüft und die entspannende Erkenntnis: Doch das funktioniert!
Der Faktencheck-Gedanke hat mich befreit. Befreit von der lähmenden und blockierenden Warterei auf die 100-Prozent-sicheres-Gefühl-Momente. Die sind so wahrscheinlich wie ein 6er-Pasch bei Kniffel, wenn überhaupt. Also eher unwahrscheinlich. Seit ich mit der Faktencheck-Strategie arbeite dehnen sich Spielraum, Fähigkeiten und Zufriedenheit aus. Der Boden hält, soweit ich das von hieraus sehen kann.
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