Naturgemäß gleicht kein Mensch dem anderen. Außen wie innen. Wir unterscheiden uns in Aussehen, Größe und Haarfarbe sowie zum Beispiel in der Einschätzung, was wir für gefährlich halten und wovor wir Angst haben. Trotzdem erlebe ich in meinen Kursen und Coachings immer wieder, wie sich Leute fertigmachen, weil sie in anspruchsvollen Situationen am Berg meinen, es stimmt was nicht mit ihnen, weil sie sich ängstlicher, vorsichtiger verhalten als andere. Sie sagen dann Sätze wie: „Alle anderen können hier entspannt auf den Turm klettern, nur ich nicht!“ „Alle anderen Wanderer gehen diese ausgesetzte Stelle ohne mit der Wimper zu zucken, nur ich nicht!“ „Alle steigen hier mit links ab. Nur ich eiere hier am Hang rum!“
Du bist ein Lebewesen — und keine Gemüsekiste!
Mal davon abgesehen, dass Du vom oberflächlichem Hinschauen gar nicht wissen kannst, was die anderen tatsächlich können oder nicht können – vielleicht schauspielern manche einfach nur gut — und dass die, die ähnliche Probleme haben wie Du, genau aus diesem Grund in diesem Moment genau an dieser Stelle am Berg, Turm oder Brücke gar nicht sind, wo Du gerade Muffensausen hast:
Du bist keine Gemüsekiste. Eine wie die andere, funktionell und fertig.
Du bist ein Lebewesen. Ein sich verändernder, lernender und dadurch — in jeder Hinsicht — einzigartiger Mensch!
Sich mit anderen vergleichen ist ja eh so ein Vabanc-Spiel, das ohne weiteres leicht im Harakiri enden kann, wenn man nicht auf der Hut ist. Vor allem führt Vergleichen dazu, dass Deine Gedanken automatisch auf die anderen gelenkt werden und dort verharren. Dadurch verlierst Du Dich selbst aus dem Blick und erkennst Dein eigenes Potential nicht, Deine Situation positiv zu verändern.
Angst ist Dein Schutzengel!
Zwar ist Angst eine Fähigkeit über die alle gesunden Säugetiere, Menschen eingeschlossen, verfügen. Sie wird uns in die Wiege gelegt als biologischer Schutzengel, Lebensretter und Motor. Sie bewahrt uns vor Verletzungen, Verzehrtheit, Tod und Aussterben. Ohne Angstempfinden gäbe es die Spezies Mensch vermutlich gar nicht mehr auf diesem Planeten.
Angst empfinden ist das eine. Das andere ist: Wovor haben wir Angst. Die Natur hat uns eine überschaubare Anzahl von Standard-Ängsten mitgegeben. Nach dem Motto: Was man hat, hat man. Dazu zählen beispielsweise die Angst vor gefährlichen Tieren, schrillen Tönen, bitterem Geschmack oder brenzligen Gerüchen. Auch der Respekt vor Tiefen und die Angst zu Stürzen sind angeboren.
Angst ist kein technisches Gerät, wie zum Beispiel ein Rauchmelder, der fixe Referenzen hat: unveränderbare Parameter, auf die er reagiert: Rauch und Dichte des Rauchs.
Das biologische Handbuch der potenziellen Gefahren wird permanent fortgeschrieben. Durch risikobehaftete, bedrohliche oder tatsächlich einschneidende Erlebnisse mit ernsten Konsequenzen für Leib und Seele, die Du selbst erlebst oder die Dir andere erzählen [Geschichten, Filme, Erzählungen, Erziehung etc.).
Zum Beispiel: Ausrutscher auf schmalem Pfad, der zu einer Seite steil abfällt. Blockade, Panik auf exponierten Gipfel. Verkrampfen auf gerölligen, abschüssigen Untergründen. Geschichten von negativen Erlebnissen in den Bergen von Freunden, Bekannten, Kollegen. Brücken, die zusammen stürzen. Unfälle mit Seilbahnen usw. usw. usw.
Diese direkten und indirekten Erlebnisse werden im Gedächtnis als Erfahrungen abgespeichert. Auf diese Weise entsteht in Deinem Kopf Dein ganz persönliches Handbuch potenzieller Risiken und Gefahren. Denn keine Geschichte gleicht der anderen. Und was Gehirne aus Geschichten machen, ist ebenfalls ein höchst individuelle Angelegenheit. Und so ist es zu erklären, dass Menschen im Laufe ihres Lebens früher oder später ihre ganz persönlichen Ängste entwickeln können:
“Ausrutschen, ganz schmale Steige, ausgesetzte Gipfel, Brücken, Seilbahnen sind potenziell gefährlich. Berge sind per se mit Vorsicht zu genießen. Da kann immer was passieren …”
Das Hinterlistige: Bergangst läuft unbewusst ab!
Welches Terrain Du als bedrohlich empfindest, welcher Untergrund für Dich ein Risiko darstellt, dass Du nicht kontrollieren kannst, welchen Grad an Ausgesetztheit Du als gefährlich einstufst und als nicht kontrollierbar wahrnimmst, diese Information wird in Dein Gedächtnis geschrieben, ohne das Du es bewusst wahrnimmst. Man könnte sagen: Das Gehirn ist eine Art „soziales Netzwerk“, das ungefragt permanent Daten über seinen Nutzer, dessen Sinneseindrücke und dessen Verhalten sammelt und auswertet. In der mentalen Datenbank der Gefahren speichert es die Informationen, die in Zukunft nützlich sein könnten, um das Überleben seines Menschen zu sichern. Die Daten bleiben drin, so lange Du nicht aktiv und bewusst „entrümpelst“ oder aktiv Maßnahmen triffst, damit “Spam” erst gar keine Chance hat sich festzusetzen.
Auch der Abruf dieser Daten geschieht unbewusst. Das Angstsystem
gleicht permanent hereinkommende Sinneseindrücke mit dem Handbuch der Gefahren ab. Kommst Du in eine Situation, zu der passende Risikoinformation vorliegen – rutschiger Abhang, steiler Abgrund etc. – löst das Angstsystem Alarm aus und schwupp fahren die Gedanken in den Kopf, wie: „Oh je, ist das rutschig, steil oder tief. Wie komme ich hier bloß rauf, runter bzw. wieder weg?“
Ist der Alarm einmal in Gang, muss es schnell gehen. Jede Sekunde zählt. Langes Nachdenken, was denn nun die beste Option ist zu reagieren, wäre fehl am Platz. Schließlich geht es um Leben oder Tod. Jedenfalls für den Teil des Gehirns, der für die Gefahrenabwehr zuständig ist! Ob diese mentale Standardeinstellung in jeder Situation für den Mensch [der ja extra in die Berge geht, um spannend zu wandern] so sinnvoll ist, ist eine andere Frage.
Menschen, die aufgrund von bestimmten Dispositionen im Gehirn keine Angst empfinden können, leben gefährlich und unkomfortabel. Sie können sich nicht auf ihr natürliches Schutzprogramm verlassen, sondern müssen ständig bewusst darauf achten, was sie wo tun und was ihnen begegnet. Verglichen mit dieser dauernden Habachtstellung leben Angsthasen bequemer und vermutlich länger.
Bergangst hat nix mit “doof anstellen” zu tun:
Wenn Du beispielsweise auf einem schmalen, steilen Pfad, der vom Regen in eine Rutschbahn verwandelt wurde, ängstlich reagierst, andere Bergwanderer dagegen an der gleichen stelle zielstrebig und sicher absteigen, hat das nichts mit “doof anstellen” zu tun.
Der Grund für Dein Verhalten ist: Dein Gehirn hat im Zusammenhang mit rutschigen Abhängen oder auch generell im Umgang mit anspruchsvollen Aufgaben andere Erfahrungen [eigene oder fremde) abgespeichert als das Gehirn derjenigen, die in solchen potenziell gefährlichen Situationen entspannt bleiben, Ruhe bewahren und sicher einen Fuß nach den anderen setzen.
Deshalb sind an der gleichen Stelle die einen Wanderer ängstlich und verzagt, andere zuversichtlicher und wieder andere Bergfexe selbstsicher und fokussiert in den Bergen unterwegs.
Mit den Schultern zucken, unbestimmt auf DIE anderen zeigen und resigniert und traurig jammern: „Alle können das und das, nur ich nicht.“ ist daher Blödsinn.
“Heike, wie kommst Du denn jetzt auf den Vergleich mit der Gemüsekiste?”
Diesen Begriff habe ich bewusst gewählt. Ich will Dich eindrücklich daran erinnern, dass Menschen kein fertiges Ding sind. Gemüsekisten werden hergestellt, benutzt, verschleißen, zerbrechen, zerbröseln und landen schließlich auf dem Müll.
Menschen kommen auf die Welt, entwickeln Fertigkeiten, sammeln Wissen und Erfahrungen. Von Anfang an verändert sich nicht nur der Körper, sondern auch unser Gehirn. Man sagt, man wird erfahrener. Was nicht immer Positives zu bedeuten hat. Wir werden erfahrener im Guten wie im weniger Guten. Nützliche Features im Gehirn, wie der angeborene Respekt vor Tiefe, können um ein Repertoire an negativen Erfahrungen ausgebaut werden, das dazu führt, das uns urplötzlich auf einem kontrollierbaren Steig die Knie schlottern lässt. Holzauge sei wachsam!
Zum Glück gilt umgekehrt: So lange wir leben, ist alles möglich! Resignieren und am Boden zerstört, das in die Tonne kloppen, was uns eigentlich Freude bereitet – nämlich in den Bergen wandern. Oder aufstehen, neue Wege gehen, positive, gelingende, stärkende Erfahrungen machen, dadurch anspruchsvollen Aufgaben mit mehr Mut und Selbstvertrauen begegnen und wieder mit Freude und Spaß die Berge genießen.
Denn der Grund für blockierende Ängste ist gleichzeitig die Lösung dieses Problems: Das lernende, veränderbare Gehirn. Fachleute sprechen von der Neuroplastizität. Alles, was Du gelernt hast, kannst Du wieder verlernen bzw. Du kannst Neues lernen. Du kannst (im Sinne von mental fähig) das Handbuch der Gefahren und Risiken in Deinem Kopf umschreiben. Die Seiten mit gelingenden, positiven, wohltuenden Erlebnissen füllen und dadurch darauf hinwirken, dass Informationen, die Fehlalarme auslösen, verblassen und für das Angstsystem unleserlich werden.
Es gibt also absolut keinen vernünftigen Grund Dich wegen Deiner Ängsten, Befürchtungen und Zweifel in für Dich anspruchsvollen Situationen beim Wandern in den Bergen zu ärgern und schlechtzumachen!
Du wirfst Dir damit ohne Not Knüppel zwischen die Beine.
„Weil immer was geht!“, singt Herbert Grönemeyer.
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