“Guten Morgen, Andrea, könnten wir am Di eine Stunde früher los. Ich mache gerade einen Online-MBSR-Kurs und der beginnt um 18.30 Uhr. Dann wäre es für mich in Bonn etwas entspannter. Nur wenn es passt! Vl. fährt RB 26 auch um 7.08 Uhr?”
“Hallo Heike, da hatten wir zum gleichen Zeitpunkt die gleiche Überlegung.🤔 Ich war gerade laufen und wollte dir jetzt schreiben. Der fährt um 7:01Uhr in MZ ab. 🤗🙋♀”
Nach 21 Monaten, 288 und 7 Kilometern, 17 Etappen und ungezählten Stunden im RB 26 (An- und Abfahrten) planen wir das Finale unserer Fernwanderung von Worms nach Bonn.
Stresstest für den Geduldsfaden
Ganz ehrlich: In Sachen An- und Abreise ist die Luft raus. 2,5 Stunden hin und 2,5 Stunden zurück. Für rund 5 Stunden Wanderung?! Regionalbahnfahrten auf der meistbefahrenen Bahnstrecke Deutschlands ribbeln selbst dicke Geduldsfäden auf.
Doch man kennts aus den Bergen. Die schönsten Bergtouren beginnen oft mit einem langen An-Hatsch durchs Tal. So könnte man es doch auch sehen, oder? Inzwischen wissenschaftlich nachgewiesen: Echte Zufriedenheit basiert auf Einsatz. Ist das nicht auch einer der Gründe, warum wir auf Berge kraxeln? Wir wollen und wir werden das Projekt zum Ende bringen. Atmen.
Endlich wieder Berge, Rhein und Weitblick
Seit Koblenz folgen wir dem Rheinburgenweg. Pi mal Daumen. Planen eigene Etappen. Allzu abgängige Schlenker vom Rhein weg ins Landesinnere lassen wir aus. Ab Andernach beginnen wieder die Berge. Eine Wohltat nach dem dicht besiedelten, flachen Neuwieder Becken mit viel Industrie. Unsere Sehnsucht nach ursprünglicher Natur und Berge stillen der ein oder andere Aussichtspunkt, Richtung Westen Blicke zum Vulkankuppenland um den Laacher See und schmale Pfade (Traumpfad Vulkanpfad) durch vor Urzeiten zu Stein erstarrte Lava oberhalb von Brohl. Aber trotz dieser einzelnen landschaftlichen Highlights — bei jeder Rückfahrt (ungelogen wirklich jeder), wenn ab Boppard die Hänge steiler, felsiger und grüner werden — tauschen wir Blicke, schütteln den Kopf bedeutungsvoll und seufzen: Bei “uns” im Oberen Mittelrheintal ist es doch am schönsten.
Unsere Laune erreicht auf der Etappe von Sinzig und Bahnhof Rolandseck den Tiefpunkt. Am Ende des Tages fassen wir zusammen: Kilometer um Kilometer über matschige, zerfurchte Waldwege gewatet, ein, zwei echt happig steile Anstiege gewuppt ohne einen einzigen Aussichtspunkt als Lohn der Mühe und — da beißt die Maus kein Faden ab — dem Ziel ein Stück näher gekommen. Aber man soll den Wandertag nicht vor dem Abend in die Tonne kloppen, sage ich jetzt mal frei nach Heike. Am Bahnhof Rolandseck kriegen wir unerwartet unser Salär fürs durchstandene Gemach: Der Fähranleger unterbricht die Baumreihe am Fluss und gibt den Blick frei auf die Gipfel des Siebengebirges auf der anderen Rheinseite. Blauer Himmel und September-Sonnenschein. Doch noch ein nennenswerter Punkt für die abendliche Dankbarkeitsliste! Danke!
So. Jetzt zur letzten Etappe. Wir spulen einen guten Monat vor. Ende Oktober. Mit 18 Minuten Verspätung treffen wir morgens am Bahnhof Rolandseck ein. Dort empfängt uns Sandra. Freundin von Andrea, Bonnerin und quasi unser Personal Guide für die Schlussetappe. Ab Rolandsbogen endet der Rheinburgenweg. Freestyle ist angesagt. Der Vorteil, einen ortskundigen Mensch im Team zu haben, wird rasch auf der Hand liegen.
“Kommt, wir steigen da einfach die Leiter runter!” Unkonventionell lotst uns Sandra über eine Industrieleiter in einem Hinterhof und ein paar Meter an der B9 entlang zum ersten Ausblick des Tages: den Rolandsbogen. Laut Alexander von Humboldt hat man von hier aus „einen der sieben schönsten Blicke der Welt“! (Zitat romantischer-rhein.de). Im Fensterbogen liegt die Landschaft zu unseren Füßen, durch die wir gleich wandern werden.
Zum Auftakt großes Finale
Wenn das Ziel vor Dir liegt, kannst Du mit den Wegen spielen. Genau das macht unsere Guide Sandra. “Nee, die Markierung lassen wir links liegen. Hier gerade aus geht es auf den Rodderberg. Den solltet ihr euch nicht entgehen lassen.” Ja, und was soll ich sagen … unvermittelt, unerwartet wird’s berggefühlig. Auf einem schmalen, einsamen Wurzelpfad steigen wir nach oben. Die schweren Regenwolken lassen wir abperlen. Von einem auf den anderen Moment stehen wir tatsächlich auf einem Gipfelplateau. Der Clou: Wir stehen auf einem 196 m ü. NHN hohen Kraterrand! Denn der Rodderberg ist ein erloschener Vulkan (Luftbild des Rodderberg-Kraters auf der Website der Uni Bonn).
Wow! Mitten am helllichten Dienstag. Mitten in Deutschland. Mitten am Rand eines der größten (oder das größte?) Ballungszentren des Landes. Grandioser Panoramablick: im Norden Bonn und Köln — sogar der Dom ist auszumachen, im Osten das Siebengebirge mit dem berühmten Gästehaus auf dem Petersberg und die Drachenburg, im Westen das Weltraumbeobachtungsradar TIRA bei Wachtburg, im Süden der Rolandsbogen.
Die Sonne taucht die Landschaft in warmes Licht. Die Herbstfarben leuchten. Meine Schultern sacken zum Boden. Die Weite vor Augen, macht mich innerlich weit (0der wirkt schon der Gipfelschnapslikör?). Egal. Automatisch kommt ein tiefer Durchatmer. Will ich hier wieder weg? Nö, oder? Ein Moment für die Götter. Rückblickend war es möglicherweise genau dieser Moment, der meine innere Haltung “Geschafft. Letzte Etappe. Nu is gut!” bissl aufweichte: “Na jaaaaa … mit Übernachtung in Bonn ff. wäre eine Fortsetzung der Tour bis Köln — oder bis zur Nordsee??? — machbar, oder?”.
Der Rodderberg — der einstige Feuerberg am Rhein — ein echter Lohn der Mühe!
Apropos Rhein: Den habe wir hin und wieder vermisst auf unserer Route durch bzw. oberhalb des Unteren Oberrheins, des Obere Mittelrheintal und des Unteren Mittelrheintal. Dabei war er doch Wegweiser, Orientierungslinie dieser Fernwanderung und zuverlässige Verbindung mit der Heimat. Nach dem Start in Worms taten sich allerdings erst bei Oppenheim erste Blicke auf den Fluss auf. Vielleicht auch deshalb beschließen wir: Zum Finale nehmen wir Tuchfühlung auf mit ihm. Die letzten Kilometer gehen wir direkt am Fluss (wie bereits von Koblenz nach Weissenthurm) und schlucken den Wehrmutstropfen “Asphalt unter den Wanderschuhen”. Danke Sandra für den Überraschungs-Abstecher aufn Berg!
PS: Es gäbe noch einiges zu erzählen über diese “letzte Etappe” (Stichwort Hauptstadt-Villen, Botschaftsniederlassungen, alte Rudervereine, Humustoilette und Bundesbüdchen), die gesamte Wanderung und unser Resümee (die Landschaft, ihre Veränderung, der Rhein, Erdgeschichte, Highlights). Genug Stoff für Geschichten in den Pausen in einem meiner Bergmut-Seminare, wenn Du magst. :-)
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