Aus dem Augen­winkel nehme ich ihn wahr. Die Aufmerk­samkeit ist jedoch auf dem spiegel­glat­ten Asphalt vor und unter meinem Schuhen. Achte darauf, auf den Streusteinchen zu bleiben, die Autor­eifen seit dem Aus­brin­gen in die Mitte der Straße geschoben haben. Ihre schar­fen Kan­ten geben Halt. Aber den Pfad, bzw. die Spur — die links ab in den Hang reinzuführen scheint — ent­deck­en meine geschul­ten Augen doch; obwohl sie hin­ter einem großem Infor­ma­tion­ss­child ver­schwindet. Möglicher­weise eine Alter­na­tive für den aus­gewiese­nen Steig jen­seits der Holzbrücke, den ich eigentlich gehen wollte, der aber ges­per­rt ist. Eher waren es allerd­ings die eisüber­zo­ge­nen Steine, Wurzeln und die im Auto liegen­den Stöcke, die mich vom geplanten Vorhaben abhiel­ten. Auf dem Hin­weg. Auf dem Rück­weg dann erspähe ich diese zweite Option. Werde ich mir mor­gen genauer anschauen! Denke ich.

In der Früh des näch­sten Tags trete ich aus dem Haus, drehe den Kopf 20 Grad nach links, lege ihn leicht in den Nack­en. Staune. Der Nebel hat sich ver­zo­gen. Freier Blick zum Über­gang zwis­chen Berg und Him­mel. Geschätzt 200 bis 300 Höhen­meter weit­er oben span­nt die Land­schaft einen ver­schneit­en Bogen. Das Feld­berg-Plateau. Von den Rän­dern her scheinen Nadel­bäume wie in Seilschaft den höch­sten Punkt anzus­teuern. Mit­ten im Vorhaben erstarrt.

Die Sonne klet­tert von Minute zu Minute über den Hor­i­zont. Malt erst die Schneekup­pel, dann die weit­er unten liegen­den, rau­reifge­frore­nen Tan­nen, Ficht­en und kahlen Laub­bäume Strich für Strich hell­rosa an. Ste­he mit­ten in gefrosteter Stille. Nichts rührt sich. Das Einzige was hier ger­ade pulst ist mein Herzschlag.

Son­nenauf­gangs­freude.

Da muss ich hoch! Plöt­zlich ist alles glasklar. Ich stelle mir nichts bloß vor. Nehme wahr. Ich sehe das Ziel — ein möglich­es — genau. Aber wie geht es dahin­ter weit­er? Wie weit ist es vom sicht­baren Punkt bis zum Gipfel; den ich bere­its mehrmals erk­lom­men habe win­ters wie som­mers? Neugierde, Ent­deck­ergeist, Sehn­sucht nach Schnee, dem Knirschen unter den Schuhen, die Wärme, die sich beim Austeigen von innen her­aus im Kör­p­er ausbreitet.

Es ergibt sich tat­säch­lich zeitlich eine Möglichkeit. In der Mit­tagspause. Vom Haus ab drei Kilo­me­ter bis zum Feld­berggipfel und zurück. Gute 2,5 Stun­den Fuß­marsch hin und zurück. Klappe die Stöcke auseinan­der, dicke Jacke, Mütze, Hand­schuhe. Schnell bin ich am Ein­stieg des am Vortag erspäht­en Pfads. Stecke die Stöcke ener­gisch rechts und links in den Boden. Schiebe mich hoch. Genieße die Stille eines plätsch­ern­den Bachs. Bin genauer dran. Ja, hier wird gegangen!

Dann erre­iche ich die Schnee­gren­ze. Bal­anciere über spiegel­glat­te Holzbrück­en. Es ist früher Nach­mit­tag. Die ersten Wan­der­er kom­men mir von oben ent­ge­gen. Ich folge ein­er Straße, komme zu ein­er bewirtschafteten Hütte und steige dahin­ter entschlossen weit­er den Pfad durch den Schnee hoch. Die Stöcke leis­ten guten Dienst. Stemme mich voller Freude gen Gipfel. 

Der eisige Feld­berg-Win­ter­wind kommt auf. Es zieht. Kapuze über die Mütze. Gegen den Strom der Wan­der­er weit­er hoch. Drehe mich um. Unter mir die niedergele­ge­nen Schwarzwald­höhen. Unten liegt mein Über­nach­tungs- und heutiger Aus­gangspunkt gute 9 Kilo­me­ter von der Zivil­i­sa­tion mit­ten im win­ter­dun­klen, schneefreien Gebirg. Ab vom Schuss. Von hier oben kann ich die Abgeschieden­heit genau erkennen.

Schnee­gren­ze im Süd­schwarzwald Anfang Dezember.

Bin auf Höhe der Baum-Seilschaft. Der Wind kriegt Angriffs­fläche. Meine Wan­gen glühen. Der Eiswind pikst ins Gesicht. Über mir kämpft sich ein Paar aufs Plateau. Schaue auf die Uhr. Wie weit will ich? Noch bis zur alle­in­ste­hen­den, dick mit Schnee beset­zten Tanne? Oder Fichte? Egal. Bis zum Gipfel jeden­falls reicht die Zeit nicht mehr. Im West­en ziehen dun­kle Wolken auf. Die Sonne hängt schemen­haft im Dun­st. Grau zieht auf. Die bun­ten Schirme der Kitesurfer heben und senken sich unver­drossen über dem Gipfel­bo­gen. Wet­ter­sturz? Um so mehr Spaß!

Wind­hun­grige Kitesurfer kom­men auf dem Feld­berg auf ihre Kosten.

Es ist erst 15 Uhr. Schw­eren Herzens löse ich mich von dieser Freude. Nur die Kälte und die Fort­set­zung des Sem­i­nars am Nach­mit­tag unten im Haus, auf dem war­men Dachbo­den mit dem schö­nen, naturbe­lasse­nen Holz­bo­den lassen mich schon so früh umdrehen. 

Beschwingt laufe ich in schnellem Schritt den Hang runter; die Stöcke immer wieder knapp neben den knieho­hen Rand aus Schnee in den fußbre­it­en Tram­pelp­fad steck­end. Ski­fahren zu Fuß. 

Später an diesem Tag lerne ich ein neues Wort: Genauern.