An das Gefühl, als sich mein Berg-Mut verabschiedet hatte, erinnere ich mich noch sehr gut. Obwohl über 10 Jahre vergangen sind, seit ich meiner Höhenangst auf dem Hohen Ifen und auf dem Rubihorn gewahr wurde und die Bilder von den Situationen längst verschwommen sind. Aber ich weiß noch genau: Damals schlug meine Begeisterung für anspruchsvolle Routen schlagartig in Vorsicht, ja in offene Ablehnung um. Stand eine schwarz markierte Tour zur Debatte, entschied ich kategorisch: „So was mache ich nicht mehr!“
So gings auch mit dem Hochvogel. Mit seinen 2590 Metern ist er zwar „nur“ der dreizehnhöchste Berg der Allgäuer Alpen. Zu übersehen ist er trotzdem kaum. Sobald Du rund um Oberstdorf, im Kleinwalsertal oder im Tannheimer Tal oben bist und Dich umschaust, steht er mit seiner markanten Form mitten im Panorama. „Hier bin ich. Komm‘ doch. Trau‘ Dich.“, scheint er zu rufen. Ich so: Nicht mit mir! Niemals!
Aber kaum zu glauben: Mein „Nein“ zum Berg sollte sich peu à peu in eine ihm zugewandte Vision wandeln, ja viel mehr noch!
Der Wendepunkt kam vier Jahre später. Ich bekam die Höhenangst in den Griff, stellte das neue Selbstvertrauen und die Selbstsicherheit auf Fellhorngrat, Hindelanger Klettersteig und Heilbronner Höhenweg erfolgreich auf die Probe. Und ertappte immer öfter meinen Entdeckergeist dabei im Internet zu recherchieren, wie es auf dem Hochvogel aussieht, wie man da hinkommt und ob ICH da hinkommen könnte!
Für den Bergsommer 2021 bin ich bereit für diesen Gipfelsturm. Entschlossen buche ich im Januar für August eine Bergführerin und die Übernachtung im Prinz Luitpold-Haus, mache brav Krafttraining und übe mich im Gedanken-ausrichten. Immer schön Schritt für Schritt dahin, wo es hingehen soll: Ostrachtal, Hinterstein, Giebelhaus, PLH, Balkenscharte, Kalter Winkel, Hochvogel-Gipfel.
Stopp. Mittendrin werde ich ausgebremst. Es ist das zweite Coronajahr. Die Impfungen gehen nicht spurlos an mir vorbei. Gesundheitlich in meiner Kraft geschwächt, unsicher in Sachen Gesundheit von Familienmitgliedern sackt mein Hochvogel-Mut in sich zusammen. Wenige Wochen vor der akribisch geplanten Tour storniere ich alle Hochvogel-Buchungen.
Ins Allgäu fahre ich trotzdem. Im Rahmen der Möglichkeiten will ich meinem Berg-Mut wieder auf die Beine helfen. Meine eigenen Erfahrungen haben mich gelehrt: Mit jedem Schritt dem Du dem Berg näherkommst, je realistischer Du die Anforderungen des Terrains für Dich einschätzen kannst, wächst Dein Berg-Mut.
Mit meinem Allgäuer Bloggerkollegen Björn Arndth mache ich mich über den Erzstieg auf zum Jubiläumsweg. Am Notländ stehe ich dem Berg meiner Träume zum ersten Mal auf Augenhöhe gegenüber. Aber bei allem Optimismus, diese Perspektive auf dem Jubiläumsweg beruhigt mich leider immer noch nicht. Im Gegenteil. In ganzer Größe und Erhabenheit tut er sich vor mir auf. Zum Gipfel hin verjüngt sich das Terrain und ich frage mich, wie soll ich da raufkommen. Wie soll das gehen? Hilft nichts: Diesen Berg schaue ich mir genauer an!
Genau ein Jahr später, am 10. August 2022, an einem Blauer-Himmel-kein-Gewitter-in-Sicht-Sonnen-Tag wird aus der Vision, aus dem Traum Wirklichkeit. Ich stehe mit beiden Füßen auf dem Hochvogelgipfel. Als meine Wanderschuhe das Plateau berühren, fällt die Anspannung ab, Freudentränen fließen. „Jetzt muss ich erstmal bissl heulen.“, kläre ich mein verdutztes Umfeld auf. Erst allmählich bekomme ich einen Blick für die Kulisse um mich herum: Unter mir tatsächlich alle „meine“ Allgäuer Berge: Hoher Ifen, Rubihorn, Nebelhorn mit Hindelanger Klettersteig, Fellhorn. Nach all‘ den Jahren der sehnsüchtigen Blicke hier her hat sich die Perspektive um 180 Grad gedreht. Ich schaue vom vormaligen Sehnsuchtsberg aus quasi zurück.
Dabei: Nur wenige Wochen vorher noch, auf der Aussichtsterrasse der Nebelhorn-Gipfelstation mit meiner Mutter, zeigte ich mit ausgestrecktem Finger und schiefem Lächeln auf den Punkt, wo ich jetzt leibhaftig stehe. Mehrere Kilometer zwischen mir und dem Hochvogel. Kein Wunder: Meine Fragezeichen bezüglich Begehbarkeit der Felspyramide unverdrossen präsent. Obwohl ich jedes Detailbild, das ich in Gondelstationen vom zentralen Gipfelmassiv entdeckte, aufs Genaueste studierte: Es war wie verhext. Es wollte kein klares Bild entstehen. Die Ungewissheit hielt sich standhaft. Als ob der Berg sagen wollte: „Du musst Dich schon selbst aufmachen, mich mit Deinen eigenen Augen sehen, um mein Geheimnis zu entschlüsseln. Vertraue Dir. Komm’ ruhig näher.“
Mal davon abgesehen, dass die Rahmenbedingungen dieses Jahr einfach passten: Gesundheit, Kondition und Wetter; unterm Strich hat sich meine Strategie mal wieder bewährt: Mit jedem Schritt den Du der ungewissen Situation real näherkommst, tut sich der Weg vor Dir auf.
Am Aufstiegstag bin ich am Kalten Winkel (2250 Meter) dem Hochvogel so nah wie nie zuvor in meinem Bergwanderleben. In Pi mal Daumen 600 Meter Luftlinie liegen mir die letzten 340 Meter Gipfelaufbau direkt gegenüber. Endlich erkennen meine Augen die Struktur im Felsen, können realistisch die Steilheit des Geländes einschätzen. An dieser Stelle dann endlich absolute Zuversicht: „Ich schaffe das“!
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