Anfang Novem­ber tut sich über­raschend ein Son­nen­fen­ster auf. Das wollen wir für eine gemein­same Wan­derung nutzen. Die Wahl fällt auf Kestert. So ziem­lich mit­ten­drin im Oberen Mit­tel­rhein­tal. Das Tal ist hier beson­ders eng. Die Felsen gegen senkrecht aufgestellt. Tagsüber wenige Stun­den Licht. Zum Ende des Jahres verir­ren sich kaum Gäste bis hier­her. Anders als weit­er flus­saufwärts herrscht in diesem Tal­ab­schnitt um diese Jahreszeit Ruhe.

Ide­al also für eine ein­same Berg­tour im Gebirg vor der Haustür.

Vor einiger Zeit schon erzählte mir der Rhein­wan­der­er von wenig began­genen alpinen Pfaden in den tief eingeschnit­te­nen Seit­en­tälern dieses Flussab­schnitts. Mit dem Fin­ger auf der Land­karte ging ich diesen Anhalt­spunk­ten nach und blieb schließlich mit dem Auge am Schriftzug Puls­bachk­lamm” hän­gen.
Die Topografie vielver­sprechend! Durch die Klamm reicht der Weg ab ein­er Höhe von 250 Metern einen guten Kilo­me­ter abwärts bis an die Ufer des Rheins auf 90 Metern. Er ist als gestrichelte Lin­ie dargestellt und auf sein­er gesamten Dis­tanz in ein sich schlän­gel­ndes, enges Ril­len­muster einge­bet­tet. Die Schlucht ist mit Laub­bäu­men bewaldet.

Das alles kommt mir wieder in den Sinn als ich mein Hirn nach neuem Ter­rain im Umkreis von Pi mal Dau­men ein­er Stunde Anfahrt abscanne. 

So tax­iere ich mit geübtem Blick auf der Wan­derkarte die Möglichkeit­en, die Klamm mit ein­er über­schaubare Runde zu verbinden: Kestert ist ein geeigneter Aus­gangspunkt. Von dort rauf zum Rhe­in­steig. Durch Oberkestert. Weit­er über den Rhe­in­steig. In den Wald. Durchs Puls­bach­tal wieder runter an den Rhein und zurück nach Kestert. 7 Kilo­me­ter. Perfekt!

Die Sonne ste­ht schon rel­a­tiv weit unten als wir das Auto auf dem Park­platz in Kestert abstellen. Es ist erst Mit­tag, aber der Tag fühlt sich bere­its wie ein Spät­som­mer­abend an. Das Licht leuchtet die Herb­st­fär­bung max­i­mal aus. Rot, Orange, kräftiges Ock­er und Erd­braun. Der Regen der let­zten Tage macht die Far­ben noch inten­siv­er. In Verbindung mit dem Wass­er zer­set­zen sich bes­timmte Stoffe im Laub zu einem aro­ma­tis­chen Duft.

Der Auf­stieg zum Rhe­in­steig ist kurz und knack­ig. Die Beloh­nung lässt aber nicht lange auf sich warten. Bei Oberkestert tun sich erste Blick über die Rhein­höhen auf. Pur­er Neid auf die mit Häusern zum Tal hin. Uschis Wan­der­sta­tion ist in der Win­ter­pause. Am Selb­st­be­di­enungs­stand erste­hen wir jedoch Quitte und roten Wein­bergsp­fir­sisch im Glas. Im Ort der erste Weg­weis­er zur Puls­bachk­lamm. Draußen auf der offe­nen Fläche der Rhein­höhe hän­gen wir die Kam­era an den Ast eines Obst­baumes. Ins Objek­tiv lachend wan­dern wir per Selb­staus­lös­er auf den Chip. Im Rück­en die Höhen bei Hirzenach auf der anderen Rhein­seite, wo die leg­endäre Rhein­gold­straße und die Traum­schleife Rhein­gold verlaufen.. 

Rheinhöhe bei Kestert
Self­ie auf den Rhein­höhen bei Oberkestert.

Im Wald quert der Rhe­in­steig den Puls­bach. 300 Meter danach zweigt der Pfad rechts ab in die Klamm. Am Tal­bo­den mün­det er in ein­er natür­lichen Halle aus hohen, alten Buchen. Innen­hal­ten. Geht nicht anders. Die Atmo­sphäre macht regungs­los. Eine ganze Weile hält uns ein Zauber in seinem Bann, der sich mit Worten schw­er beschreiben lässt. Durchatmen. 

Bei den alten Buchen
Bei den alten Buchen.

Wir müssen weit­er. Mal gemäch­lich, mal je abfal­l­end führt der Pfad am Bach ent­lang nach unten. Rechts und links gefasst von steil nach oben streben­den, mit bemoost­em Fels durch­set­zten Hän­gen. Weg­marken braucht es hier nicht. Ein mor­bides Brück­lein läutet die let­zten Meter des Klammwegs ein. Dann tauchen erste alte Wein­bergs­mauern auf. Sie bleiben eine ganze Weile an unser­er Seite, begleit­en uns unauf­dringlich aber bes­timmt zum Aus­gang. An der Unter­führung der Bah­n­gleise bietet sich uner­wartet eine attrak­tive Alter­na­tive für den Rück­weg an der Straße an: Ein Wiesen­weg durch Streuob­st­wiesen, die sich an die steil aufra­gen­den Stein­wände schmiegen. Einen guten Kilo­me­ter voraus kündigt der imposante Fels Am Gaul” — ein alter Stein­bruch — unser Ziel an. 

Alter Steinbruch Am Gaul
Alter Stein­bruch Am Gaul”

Wir bekom­men Ver­längerung geschenkt: Kurz vor Kestert ent­deck­en wir eine Option noch ein paar Meter direkt am Fluss ent­lang zu stromern.

Herbstlicher Rheinstrand bei Kestert.
Herb­stlich­er Rhe­in­strand bei Kestert im Oberen Mittelrheintal.

Zurück am Aus­gangspunkt. Drüben vor Hirzenach beobacht­en wir noch eine typ­is­che Mit­tel­rhein­tal-Szene. Ein Inter­ci­ty auf der Fahrt nach Süden schiebt sich im Schritt­tem­po vor das Städtchen. Die unfass­bar lange Wagen­schlange reicht für einen Moment tat­säch­lich vom Ort­san­fang bis zum Ort­sende. Auf der uns gegenüber­liegen­den Rhein­seite herrscht bere­its der Hangschat­ten. Um vier Uhr nach­mit­tags! Dank eines Talein­schnitts dort kriegen wir aber an unserem Ufer ger­ade noch so Sonne ab. Dann bezieht der Vor­bote der Nacht auch in Kestert seinen Posten. Fast unmit­tel­bar geht die Luft­tem­per­atur in den Keller. Es riecht nach kaltem Apshalt. Bald wer­den in den Häusern die Lam­p­en angeknipst. Für Reisende, die sich die Abendzeit im Zug mit einem Buch vertreiben und kurz den Kopf heben, um durch das Abteil­fen­ster hin­aus in die Dunkel­heit zu spähen: jew­eils ein blink­endes Birnchen in der Lichter­kette durch das Obere Mittelrheintal.