Die Erleuchtung für meine Hüttentour im Allgäu im August kam mir beim Lesen dieses Buches: „Weite Wege Wandern“. Dabei will ich dieses Mal gar nicht weit wandern, schon gar keine 1000 Kilometer. Dafür aber rauf. Und zwar mindestens 1000 Höhenmeter direttissima. Es wird zwar anders aber dennoch körperlich und mental fordernd. Und was bei “weit” nutzt, kann ja bei “rauf” nicht schaden.
Die Autorin ist von Beruf Langstreckenwanderin. Unter 1000 Kilometer fängt sie mit dem Wandern erst gar nicht an. Sie ist im Jahr mindestens sechs Monate auf Tour. Die misst schon mal 3000, 4000 5000 Kilometer Strecke. Dafür braucht sie meist drei bis vier Monate Zeit.
Christine Thürmer ist laut eigenem Bekunden die am weitesten gewanderte Frau der Welt. Ein Vollprofi.
Angesichts der unglaublichen 45.000 Wanderkilometer, die sie in den letzten 12 Jahren unter die Füße genommen hat, taucht unweigerlich die Frage auf: Wie macht die das eigentlich???
Dieses Buch gibt Antworten.
Zufrieden sein statt Mainstream folgen
In ihrem früheren Leben war Christine Thürmer Unternehmensberaterin mit Händchen, Organisationen „schlank“ zu machen. Jetzt macht sie ihre eigenen (Wander)Unternehmungen leicht. Pluspunkt: Know How und Faible für Zahlen, Effektivität und Effizienz. Das fängt mit der Planung einer Wanderung in der Exceltabelle an, geht mit dem Austarieren des Gewichts des Rucksacks bis aufs Gramm weiter und kann schon mal dazu führen, dass die überteuerte Schokolade in Skandinavien – Geburtstag hin, Geburtstag her – schon in der Hand wieder ins Regal zurückwandert.
Ihre Wanderziele geht die Autorin mit einem glasklaren Plan an. Was zählt ist: Täglich aufs Neue in den Wander-Flow kommen. Die gesetzte Etappe von 30 Kilometern im gemütlichen Schnitt von 4 Kilometern die Stunde inkl. Schwätzchen am Gartenzaun und Sightseeing über Monate beibehalten, mental und körperlich unversehrt bleiben und am Abend hundemüde an einem sicheren Plätzchen ins Zelt krabbeln.
Für diesen Anspruch lebt sie nach dem Ultraleichtprinzip. Sie reduziert und eliminiert alles, was ihrem Vorhaben entgegenwirken könnte: unnötiges Gewicht, unnötigen Komfort, unnötige Distanzen (im Zweifel dann doch über die wackelige Brücke, statt stundenlang drum herum). Andersherum fährt sie bei allem rauf, was ihre Unternehmungen dauerhaft ermöglicht: Sicherheit, Kommunikation, Erholung.
Um keine falschen Vorstellungen aufkommen zu lassen: Die Ratschläge in „Weite Wege Wandern“ sind jenseits von Mainstream. Kein Firlefanz, kein Schickimicki, keine Modetrends. Tipps für sternegetestete Rucksäcke, Regenklamotten, Zelte oder Kochutensilien wirst Du in diesem Buch vergeblich suchen. Angesagtes Material, Modefarben oder „schöne“ Ausblicke beim Campen – mit romantischen Vorstellungen vom Wandern räumt die Wanderexpertin ohne Wenn und Aber auf. Bei einem Ausrüstungsgegenstand achtet sie dagegen sehr auf Qualität …
Zugegeben: Bei manch freimütig geschildertem Detail aus ihrem Wanderleben ging mir durch den Kopf „Ja, könnte sein, dass ich das bei einer 5000 Kilometerwanderung auch irgendwann so machen würde, aber …“ Zum Beispiel wofür man alles einen Kochtopf benutzen kann. So viel sei verraten: Nicht nur zum Kochen. Oder der Regenrock aus einer blauen Plastiktüte (nach unten atmungsaktiv!) statt Regenhose. Sehr spannend, wie Mensch auf den Boden der Tatsachen kommen kann, wenn es darauf ankommt! Das macht mir Hoffnung.
Das Angenehme bei Christine Thürmer ist: Sie stülpt ihre unkonventionellen, in der Praxis erprobten Ideen niemanden über. Ihr Wissen teilt sie ohne missionarisch daher zu kommen.
Die Meisterin der Selbstmotivation bringt Fakten unterhaltsam rüber!
Mal ehrlich, wie würdest Du Dich fühlen, nach einer Nacht im Zelt bei Temperaturen im einstelligen Bereich (oder gar im Minus) und der Aussicht, gleich aus dem warmen, trockenen Schlafzeugs in die feuchte Wanderkluft des Vortages zu schlüpfen und die Füße in die nassen Treter zu stecken? Genau! Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer solche Situationen mehr als einmal erlebt hat und immer noch weiter weitwandert, der muss es echt drauf haben mit der Selbstmotivation!!!
Die Autorin ist Extremwanderin. Ja! Aber kein Übermensch. Sie macht kein Harakiri! Sie achtet auf sich. Mental und physisch. Schon alleine, um ihre Motivation über Monate on Tour kontinuierlich oben zu halten. So viel sei verraten: Trail-Frust kennt sie schon auch und wie man ihm vorbeugt.
Mehrere Tage starker Dauerregen? Zur Not hängt sie auch mal einen Tag bei der fest eingeplanten wöchentlichen, eintägigen Wanderpause in Pension oder Hotel dran. Tagelang auf einem besonders einsamen Streckenabschnitt keinem Menschen begegnet? Dann werden die regelmäßigen Telefonate mit Freunden zu Hause eben etwas häufiger und ausgedehnter angesetzt. Bei allem Enthusiasmus fürs Wandern behält Christine Thürmer ihre Grundbedürfnisse fest im Blick und sorgt routiniert dafür, dass unterwegs und draußen Wohlbefinden, Schönes und Soziales nicht zu kurz kommen! Wie sie das macht, worauf sie besonders achtet, damit die Laune oben bleibt, das beschreibt sie haarklein in diesem Buch!
Geballtes Wissen also! Andere Ratgeber bieten das auch. Aber so mancher Wanderprofi neigt dazu, solcher Details-Fülle redaktionell mit klitzekleinem Text und trockener, telegrammstilartiger Reduktion auf die Fakten Herr zu werden. Bei diesem Buch ist das anders.
Zwar liegen von „Wovon man sich nicht vom Weitwandern abhalten lassen sollte“ über „Alltag unterwegs: Mythos und Realität“ bis „Probleme unterwegs und wie man sie löst“ satt mit Tipps, Tricks und Erfahrungen gefüllte 285 Seiten vor Dir. Da könnte der Kopf leicht ins Schwirren geraten. Aber als Taschenbuch aus angenehmem Papier fühlt sich „Das Know-how der meistgewanderten Frau der Welt.“ bereits beim ersten Aufschlagen in der Hand gut an und sendet zuversichtliche Signale ans Hirn!
Und auch in Sachen „den Stoff lebendig rüberbringen“ lässt Dich dieser praktische Schmöker nicht im Stich. So, wie es der in Selbstmotivation geschulten und erfolgreich erprobten Autorin gelingt, sich selbst auf Langstrecke unter widrigsten Bedingungen bei Laune zu halten, so hat sie es als Autorin von drei Büchern auch drauf, dafür zu sorgen, dass Du beim Lesen am Ball bleibst. Sie schreibt in lockerem Ton, wählt ihre Worte auf Augenhöhe und verpackt ihr Wissen und ihre Botschaften in spannende und unterhaltsame Geschichten, die sie in Nord- und Südamerika, Australien, Europa und Deutschland erlebt hat. Und weil Bilder mehr sagen als tausend Worte, zeigt sie uns in der Mitte des Buches und in Farbe eine Auswahl ihrer schönsten Fotos von unterwegs!
Für Globetrotter und Heimatwanderer
„Die Bibel des Langstreckenwanderns“ titelt der Verlag auf dem hinteren Buchdeckel. Jo. Das darf man schon erwarten bei einem Kompendium einer Berufswanderin. Aber bleiben wir auf dem Teppich: Selbst wenn Du Deinen ganzen Jahresurlaub einsetzt, ein Sabbatical planst oder sonst wie „außer Dienst“ bist – die wenigsten, die gerne weite Strecken wandern, wollen oder können deshalb ihr komplettes Leben umkrempeln und umsatteln auf Profiwanderer mit der entsprechenden freien Zeit.
Das weiß der Verlag und das weiß die Autorin. Deshalb bekommen wir Normalos als letztes das Kapitel „Tourentipps für alles Lebenslagen“ serviert. Ausgewählte Distanzen aus dem riesigen Repertoire der bewanderten Kennerin. Allesamt im dreistelligen Bereich. Geeignet, um sich an die Langstrecke ranzutasten, das im Buch Gelernte auszuprobieren und um in Erfahrung zu bringen, ob der geweckte Traum vom Weitwandern tatsächlich Dein Ding ist oder ob Du den ein oder anderen Tipp annimmst, um den Wander-Flow “nur” auf Runden oder Strecken im unteren zweistellige Bereich zu realisieren.
Landschaftlich, kulturell und nach der Manier: „Christine, ich plane im nächsten Urlaub eine Etappen-Wanderung. Du kennst Dich doch aus. Hast Du einen Tipp für mich? Welche Routen kannst Du mir empfehlen, die attraktiv, aber nicht überlaufen sind?“, präsentiert Thürmer sieben Kleinode aus ihrem unergründlichen Wanderschatz: Außergewöhnlich schöne Weitwanderungen abseits des Mainstreams: Deutschland, Österreich, Spanien, Ungarn, USA, Israel und Australien.
Wie die das so macht und wie das Leben draußen tatsächlich aussieht!
Für alle, die Christine Thürmer aus ihren ersten beiden Büchern kennen und ihr vielleicht auch in den Sozialen Medien folgen (wo sie uns tagesaktuell an ihren Touren teilhaben lässt) bietet dieses neue Exemplar eine ganz neue Perspektive auf ihre Projekte und den Mensch Christiane Thürmer. Wenn Du „Weite Wege wandern“ zuklappst, hast Du eine Ahnung davon, wie das mit dem „Thrue Hiking“ funktionieren kann. Also Distanzen von 4000 bis 5000 Kilometern in einem Rutsch durchwandern. Ob Du es dann machst, steht auf einem anderen Blatt.
Das Buch ist für weite Strecken ausgelegt und spricht in erster Linie Menschen an, die mehr als 20 Kilometer am Stück und mehr als einen Tag zu Fuß gehen möchten. Aber auch in dieser Liga variieren die persönlichen Lebensbedingungen: Wer Familie hat, in einer festen Beziehung lebt – also in diesem Sinn zu den eher „sesshaften“ Weitwanderern zählt, der findet hier Anregungen, wie er seinen Traum mit dem Rest seines Lebens in Einklang bringt. Abgesehen davon ist dieses Buch ein Muss für alle, die sich für Menschen interessieren, die außergewöhnliche Sachen machen oder die sich grundsätzlich gerne von Lebenskünstlern eine Scheibe abschneiden.
Jeder fängt klein an …
Da ist noch die Sache mit meiner Hüttentour im Allgäu. Da bin ich Dir ja noch eine Auflösung schuld. Es geht ums Gewicht. Ich packe immer noch ganz gerne zu viel als zu wenig in den Rucksack. Obwohl ich schon sooo oft mit schmerzenden Schultern heimkam. Das Gehirn vergisst solche leidvollen Erfahrungen ganz gerne wieder. Bei der Lektüre erinnerte ich mich an das unangenehme Ziehen im Nacken nach der letzten Tour mit übergewichtigem Rucksack und es hat Klick gemacht!
Jeder fängt klein an. Ich beginne bei den Trinkflaschen. Statt der schönen, geschmackvoll gestalteten aber leider jeweils über 150 Gramm schweren Trinkflaschen eines bekannten Schweizer Herstellers (Sorry, aber Gesundheit geht vor!) werden im August zwei simple Plastikflaschen vom Discounter (jeweils 30 Gramm) zum Einsatz kommen. Damit spare ich fast ein halbes Pfund. Mit diesem Weniger an Gewicht entlaste ich meine Schultern oder schaffe Spielraum für mehr Wasser oder sonst was Lebenswichtiges, wie z.B. eine Powerbank als Energiereserve fürs Smartphone, um mit Zuhause in Verbindung zu bleiben oder im Notfall die Bergwacht zu kontaktieren. Jedes Gramm zählt. Und die Exceltabelle, um das finale Gewicht des Rucksacks zu berechnen und zu planen, ist auch schon auf dem Rechner angelegt!
Profitiert habe ich von diesem persönlich gehaltenen Erfahrungsbericht auch in anderer Hinsicht: Christine Thürmer hat mir die Augen geöffnet oder sagen wir mal mich erinnert. An das, worauf es beim Wandern tatsächlich ankommt: aufs Wandern nämlich! Ihr Beispiel bestärkt mich weiter im Leben wie auch beim Wandern das zu tun, was gut tut und sein zu lassen, was nicht gut tut. Auch dann, wenn ich damit aus der Reihe tanze.
Wenn Dich interessiert, wie aus der Businessfrau die Wanderfrau wurde: Diese Story, hat Christine Thürmer in “Laufen, Essen, Schlafen” und “Wandern, Radeln, Paddeln“ausführlich beschrieben.
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