„Die ist ja ein bisschen verrückt.“ Ich erinnere mich gut an diesen Satz aus dem Mund von einem, der gerade auf dem Fußweg war von Hamburg nach Rom! Ich traf ihn während einer Wanderveranstaltung im Osten Deutschlands. Ich weiß noch, wie mich dieses Urteil überrascht hat. Denn mit „die“ meinte er Christine Thürmer. Die Frau, die seit über 10 Jahren aus eigener Muskelkraft die Welt erkundet und dabei tausende und abertausende Kilometer zurückgelegt hat.
Ich zolle ihr Respekt. Ihr erstes Buch „Laufen. Essen. Schlafen.“ habe ich in einem Rutsch verschlungen und im Blog besprochen. Darin schreibt Christine Thürmer, wie alles anfing mit der Wanderei. Mit der Aufgabe des festen Wohnsitzes und mit jeweils mehrmonatigen Touren auf den Trails durch Nordamerika. Ihre Geschichten haben mich schwer beeindruckt. Also nicht nur die Geschichten, sondern die Entschlossenheit, die Konsequenz und die Beharrlichkeit mit der sie das Wanderleben aufgenommen hat. Genauer gesagt: das Nomadenleben. Laut Klappentext im neuen Buch hast sie bis heute 75.000 Kilometer zurückgelegt. Zu Fuß, per Rad und im Kajak. Während ich schreibe, verfolge ich mit einem Auge ihre täglichen Berichte auf Facebook von ihrer Wanderung von Südschweden bis ans Nordkap in diesem Sommer 2018.
Das neue Buch heißt „Wandern. Radeln. Paddeln.“ und dokumentiert drei Langstreckentouren in Europa. Vierzehn Monate aus dem Outdoor-Leben der Autorin: Zu Fuß 4000 Kilometer von Koblenz bis zum südlichsten Punkt des europäischen Festlands. Mit dem Rad 7000 Kilometer von Berlin durch Polen und das Baltikum nach Finnland. Mit dem Kajak 850 Kilometer quer durch Schweden.
In letzter Zeit habe ich mir angewöhnt, immer dann, wenn ich in einem Buch die Lust verliere, an einer anderen Stelle weiterzulesen, die mich spontan anspricht. In „Wandern. Radeln. Paddeln.“ ist mir lustigerweise im Wanderkapitel langweilig geworden. Offenbar ist es so, dass egal was Du machst, irgendwann eine gewisse Routine einsetzt. Auch das Leben einer Wanderin folgt Mustern [siehe erstes Buch]. Irgendwo in Frankreich springe ich deshalb vom ersten Kapitel direkt ins dritte: zur Paddelreise durch Schweden. Radtouren [2. Kapitel] sprechen mich nicht auf Anhieb an. Selbst habe ich wenig gute Erinnerungen damit. Kajak bin ich noch gar nicht gefahren. Aber Schweden, Schweden berührt was in mir. Dort war ich selbst schon wandernd unterwegs. Das Land gefällt mir. Meine geographische Jugendliebe. Ich bin neugierig, wie Christine Thürmer den Norden erlebt. Also los!
Die 60 Seiten Kajakfahrt in den Kanälen und auf den Seen Schwedens vergehen wie im Flug. Eine aufregende, körperlich herausfordernde Tour am Übergang zum frühen, kalten nordischen Herbst. Sie hält durch [auch dank der gastfreundlichen Schweden; die Storys erinnern mich an eigene Erfahrungen damit]. Chapeau! Spannung pur. Anschaulich und eindrucksvoll geschrieben. Klasse!
Wunderbar. Meine Leselust ist wieder da. Zurück nach Frankreich. Dieses Land, wo Supermärkte über Mittag schließen [was Wanderer schwer unter Zeitdruck setzt], ist bald geschafft und der abenteuerliche Wechsel über die Pyrenäen nach Spanien steht bevor. Dort darf ich miterleben, dass sich das menschliche Publikum im Wald unwesentlich von heimischen Wäldern unterscheidet, dass einem eine rote Mütze das Leben retten kann und dass in Spanien auch auf ausgeschilderten Wanderwegen mit unüberwindbaren Hindernissen zu rechnen ist.
Im 2. Kapitel wartet, wie gesagt, die Radtour durch Osteuropa. Jetzt wo ich darüber schreiben will, stelle ich fest: diese 112 Tage fehlen mir noch. Diesen Bericht habe ich noch gar nicht gelesen. Flink blättere ich durch die 100 Seiten und stoße auf die Fotos. Christine Thürmer am Deutschen Eck. Der Rhein. Orangenplantage in Spanien. Das Rad an einem finnischen See. Der Ostseestrand. Eine Schleuse am Göta-Kanal. Das Faltkajak handlich verpackt auf einem Bootskarren, in voller Länge auf der Landstraße liegend und am seichten Ufer der Insel Trollän. Dann geht es schon mit dem Bericht aus Litauen weiter: „Langsam rolle ich durch das Dorf, und meine Augen suchen an jedem Haus und jedem Bauernhof am Straßenrand nach einem Wasserhahn.“ Ich glaube, jetzt bin ich infiziert. Die Radtour wird mein Lesefutter heute Abend!
Was gibt es sonst noch zum Buch zu schreiben? Christine Thürmer versteht es auch im 2. Buch, ihre Leser mitzunehmen, teilhabenzulassen an ihren außergewöhnlichen Unternehmungen. Ich kann mich kaum dem aufkommenden Wunsch entziehen, selbst loszumachen. Nur bei der Art und Weise bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich geeignet bin, für dieses selbstgewählte, spartanische, tatsächlich auf das Wesentliche reduzierte Leben im Zelt und aus dem Rucksack.
Nach diesem Buch steht für mich fest: Christine Thürmer ist absoluter Langstreckenprofi. Sie kennt sich selbst, ihre Stärken und Schwächen ziemlich genau. Weiß, was sie sich zutrauen kann und was nicht. Sie ist hart im Nehmen, was Kälte, Dreck und Kraftanstrengung anbetrifft. Einerseits. Andererseits nimmt sie Hilfe an, wenn Not ist. Das alles finde ich persönlich sehr bemerkenswert.
Die Frau hat Vorbildcharakter. Nicht so sehr, was ihre persönliche Vorgehensweise betrifft. Viel mehr lebt sie vor und schreibt darüber, was es bedeutet „sein Leben zu leben“. Nämlich nicht immer nur Friede, Freude, Eierkuchen. Sondern Höhen und Tiefen und die Zufriedenheit, die daraus erwächst, trotz alledem auf dem selbst gewählten Weg zu bleiben. Egal wie er konkret aussieht.
Draußen unterwegs zu sein, draußen zu leben ist für Christine Thürmer kein Freizeitspaß. Es ist Berufung. Nach dem 2. Buch möchte ich fast behaupten: es ist ihr Beruf. Wie die einen jeden Morgen ins Büro gehen, macht sich Christine Thürmer auf den Weg, um ihre 30 Kilometer-Tagesetappe zu absolvieren. Mit aller Konsequenz. Mit Jammern, Selbstmitleid, Mutlosigkeit und emotionalen Höhenflügen, wenn das Abenteuer bestanden ist und ein Ruhetag mit viel Schokolade und heißer Dusche zur Belohnung folgt.
Sicherlich: diese Art Leben fasziniert und kommt einem im nächsten Moment exotisch vor. Man kann es als „verrückt“ bezeichnen oder aber gradlinig. Irgendwo habe ich den Spruch gelesen: Wenn sie Dich als verrückt bezeichnen, dann bist Du auf dem richtigen Weg. Voilá!
Das Taschenbuch „Wandern. Radeln, Paddeln.“ ist im Malik-Verlag erschienen, hat 299 Seiten und kostet 17,50 Euro. Mir wurde es vom Verlag als kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Danke dafür! Ich empfehle dieses Buch allen meinen Lesern, die sich für freies Unterwegs draußen interessieren. Sie erhalten praktische Informationen über das Outdoorleben in den Ländern Deutschland, Frankreich, Spanien, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland und Schweden. Außerdem erfahren sie, wie eine Frau, die sich für das Unterwegs sein in der Natur entschieden hat, ihren Alltag meistert. Nebenbei lässt sie uns auch immer wieder an schwachen, müden Momenten teilhaben. Und ehrlich: Dieser Aspekt hat mich am Anfang doch sehr überrascht. Ich gebe zu: Ich habe mit mir gehadert, ob ich dieses Gefühl ansprechen soll, das mich zunächst beschlichen hat.
„Und warum stellst du dich dann am Anfang einer Tour immer noch an wie der erste Mensch?“, fragt sie ihr Freund Werner nämlich am Vorabend der Wanderung nach Südeuropa. Denn das erste Kapitel beginnt zwar mit einem Rums als die Autorin den Rucksack aus dem Lager wuchtet, aber dann doch mit erstaunlich vielen Zweifeln. Diese Passagen kommen mir erst überzogen, gestellt, wie extra eingebaut vor. Dann lerne ich, es gibt wohl so etwas wie Prä-Trip-Depression und beschließe: Fast um die Welt gewandert zu sein, bedeutet offenbar nicht automatisch auch in jeder Lebenslage taff und abgebrüht zu sein. Anders wäre es auch sehr merkwürdig, oder?!
Ich wünsche viel Lesefreude mit dem 2. Buch der Langstreckenexpertin Christine Thürmer!
Schreibe einen Kommentar