„Du hoscht obber heit fri uff!“, hat die Frau dem Mann zugerufen. Geschäftig positioniert er Kleiderständer vor seinem Laden. Rückt Bügel zurecht. Kurz nach 8 Uhr ist es gerade mal. Noch nimmt die Müllabfuhr die Straße im Meisenheimer Ortskern in Beschlag.
Früh bin auch ich auf den Beinen. Um halb 5 Uhr aufgestanden. Von Mainz mit der Bahn, vollbesetztem Schulbus und mit dreimal umsteigen nach Meisenheim gefahren. Der Ausgangspunkt der heutigen Tour. Nach fast 3 Monaten Pause steht die nächste Etappe meiner Wanderung durch das Nord-Pfälzer Bergland auf dem Programm: von Meisenheim über Callbach, Schmittweiler, Finkenbach-Gersweiler, Ransweiler (geplant), Neubau und Stahlberg (spontaner Schlenker) und Schönborn nach Rockenhausen (23 Kilometer, 789 Höhenmeter, 7,5 Stunden).
Bis Callbach laufe ich auf dem Pfälzer Höhenweg. Hier kenne ich mich bereits aus; von der Tour nach Alsenz im März. Oberhalb des Ortes hole ich die Karte raus und richte den Kompass auf die Marschzahl 170 Grad ein. Dieser Weg führt mich in den Süden.
Mit Auf und Abs geht es kontinuierlich hoch. Durch Wald, über die Felder. Erste Weitblicke rechts und links des Wegs. Die Route führt abwechselnd auf Erdpfaden und schmalen Landsträßchen. Die habe ich durchweg für mich alleine. Nix los mitten auf dem dicksten Land.
Die erste Heuernte dieses Sommers ist gelaufen; große Rollen liegen bereit, um in die Schober transportiert zu werden. Das Getreide hoch. Jetzt Mitte Juni zum Teil schon mit goldgelben Ähren. Gerahmt von rotem Klatschmohn und blauen Kornblumen. Die Sonne scheint. Es duftet nach Stroh. Warmer Wind streicht über’s Gesicht.
Sommer, wie ich ihn aus der Kindheit in Erinnerung habe.
Auf der Bank am Ortseingang von Schmittweiler mache ich eine kurze Pause, orientiere mich, richte den Kompass aus auf Südost (115 Grad). Auf der Karte checke ich, wo der Weg am anderen Ende des Dorfes weitergeht. Kirchen – in der Karte mit einem Symbol extra eingezeichnet — sind ein hilfreicher Anhaltspunkt, habe ich festgestellt.
Runter von der Landstraße, querfeldein durch Wald und Wiesen auf wenig gegangenen, fast zugewachsenen Wegen, stehe ich dann am Rand eines Maisfeldes. Die Pflanzen sind noch ganz klein. Genug Freiraum, keine Gefahr die Sprößlinge zu zertrampeln. Ich entschließe mich am Feldrand weiterzulaufen. Sehe dann einen richtigen Weg. Eine steile Böschung, die mich von ihm trennt, rutsche ich auf dem Hosenboden runter. Zur Belohnung für diesen Einsatz darf ich auf einem weichen, von Schatten spendenden Bäumen gesäumten Wiesenweg in Finkenbach-Gersweiler einlaufen.
Dort auf dem Marktplatz gehen so viele Wege ab, dass ich sicherheitshalber einen älteren Herrn frage, der dort grade mit seinem Enkel spielt. Ich halte ihm die Wanderkarte unter die Nase und will von ihm wissen, wo im Dorf ich genau bin. Er deutet auf eine Position, die zu meinem Entsetzen entgegengesetzt meiner Richtung liegt. Aber dann stellt sich raus, ich bin doch richtig. Kartenlesen ist offensichtlich nicht seine Stärke. Dafür funktioniert aber seine innere Karte perfekt. Sicher und bestimmt beschreibt er mir den Weg raus aus dem Dorf. Geplant hatte ich über Ransweiler wieder auf den Pfälzer Höhenweg zu stoßen. Er empfiehlt mir die Route über Neubau und Stahlberg: „Ist doch viel schöner da oben!“. Gesagt getan. So mache ich einen spontanen Schlenker, der mir einen Rastplatz mit tollem Fernblick und zusätzliche 3 Kilometer durch den Wald beschert.
Ab Neuhaus geht es also wieder auf dem Pfälzer Höhenweg weiter. Ein breiter Waldweg. Leider überwiegend mit mittelgroßem Schotter befestigt.
Unbequem zum Laufen. Ich weiche auf die ebenen Wegränder aus, wo es geht.
Bei diesen Premiumwegen muss man höllisch aufpassen, dass man den richtigen Einstieg erwischt. Man darf sich nicht von Wegen irritieren lassen, die auf Grund der Breite doch scheinbar „auf der Hand liegen“. Ich wundere mich nach einiger Zeit, dass die weißblaue Wolke, Wegmarkierung des Höhenwegs, nicht mehr auftaucht. Sonnenstand und Gefühl sagen jedoch, dass ich in die richtige Richtung laufe. Irgendwann kommt mir die Sache komisch vor. Zurücklaufen kommt nicht in Frage. Ist zum Glück auch nicht nötig. Mit GPS und Karte ermittele ich meinen genauen Standort im Bannholz. Meine Unachtsamkeit hat mich leicht westlich versetzt zum Höhenweg abgeschlagen. Ich stapfe am Feldrand entlang zwischen Getreide und Waldrand rüber auf die richtige Route.
Noch immer 7 Kilometer bis nach Rockenhausen. Uff. Die informative Beschilderung ist ein Vorteile dieser zertifizierten Wege. Da gibt es nichts dran zu rütteln. Genaue Höhe, UTM-Koordinaten – alles, was das orientierungsbedürftige Wanderherz begehrt. Ich bin jetzt auf dem höchsten Punkt meiner Tour angelangt: 468 Meter.
Als ich aus dem Wald trete, offenbart die Nordpfalz ihre grenzenlose Weite. Diese Passage zwischen Schönborn und Rockenhausen ist in Sachen Ausblick unschlagbar. Auf der Karte ziehen sich die Höhenlinien wie ein weit gespanntes, engmaschiges Spinnennetz vom Grat des Lichtenbergs und des Reinhardsbergs runter nach Katzenbach (250 Meter).
Dieser Ausguck gewährt in alle Himmelsrichtungen freie Sicht.
Im Norden entdecke ich durch die Kerbe des Alsenztals die Steilwand des Rotenfels. Im Nordosten ahne ich die Hiwwel der Rheinhessischen Schweiz. Zum Greifen nahe direkt vor mir im Osten der charakteristische Bogen des Donnersbergs (650 Meter). Im Südwesten schaue ich über die Höhen Richtung „altes Land“ – nach Wolfstein. Diese Gegend nehme ich mir für Spätsommer und Herbst vor!
Allmählich komme ich an meine Grenzen. Beim Abstieg über 200 Höhenmeter beginnen die Knie zu schmerzen; ich tröste mich damit, dass das eine gute Übung für die Bergtouren in den Alpen in wenigen Wochen ist. Die Wasserflasche ist leer. Deutlich merke ich: meine Wohlfühldistanz von 15 bis 16 Kilometern ist schon lange überschritten.
Dann liegt mir Rockenhausen im Alsenztal zu Füßen. Ich kürze ab, wo es geht. Und endlich stehe ich am Bahnhof. Rockenhausen ist zum Glück so groß und die Station so frequentiert, dass es einen kleinen Laden gibt. „Die drei Fläschjer?“, fragt die Verkäuferin und kassiert in aller Ruhe ab. Sie ahnt nichts von meinem großen Durst. Zwei Flaschen leere ich in einem Zug. Suche Schatten. Der moderne Regioexpress fährt ein. Ich ergattere im mit Schülern vollbesetzten Waggon einen Platz und lasse mich in den bequemen Sitz plumpsen. Dank der super Zugverbindung (der Anschluss in Bad Münster klappt in der Regel nahtlos: Zug raus, Zug rein!) stehe ich gut eine Stunde später wieder am Mainzer Hauptbahnhof. Zurück aus der Bergwelt vor der Haustür. Erschöpft und zufrieden.
Ich wusste ja durch meine Planung, dass diese Wanderung auf Grund ihrer Distanz mich herausfordern würde. Vielleicht habe ich diese Etappe auch deshalb ein bisschen vor mir her geschoben. Noch Dienstagabend hat mein innerer Schweinhund versucht mich vom Plan abzubringen: Ach, so früh aufstehen. So weit gehen. Grad saugt die Büroarbeit alle Kräfte ab. Mach doch besser auf gemütlich! Die Verlockung, auszuschlafen und später am Tag im Binger Wald oder im Botanischen Garten auf Fototour zu gehen, war groß. Ich habe diese Gedanken bei Seite geschoben und trotz Haderei ganz bewusst und entschieden meinen Plan angesteuert. Zugegeben: Auf den ersten Metern steckte noch die Müdigkeit in den Knochen und die Schreibtischarbeit im Kopf. Aber schon nach kurzer Zeit habe ich erleichtert festgestellt: der Wanderzauber funktioniert einwandfrei: alle Bedenken, alles Zaudern wie weggeweht. Der Kopf frei und die Lust zu Fuß über Land unterwegs zu sein ungebrochen! :-)
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