Bevor es Winter wird will ich die nördliche Grenze des Nord-Pfälzer Berglands ablaufen. Deshalb war ich letzten Mittwoch südlich der Nahe unterwegs. Wieder eine Überland-Tour. Von Hochstätten an der Alsenz (Pfalz) über Dreiweiherhof, Monterforter Hof, Dimrother Hof, Heddarter Hof, Odernheim an der Glan nach Staudernheim an der Nahe (16 Kilometer). Von Bahnstation zu Bahnstation. Es geht richtig ins Hinterland. Die Bahnverbindung werden komplizierter. Der Regioexpress von Mainz nach Bad Münster am Stein hat 8 Minuten Verspätung, der Anschlusszug ist weg und ich muss fast eine Stunde bis zur Weiterfahrt zum Ausgangspunkt meiner Wanderung warten.
In Hochstätten steige ich aus dem Zug und stehen quasi im Ort. “Wo wollen Sie denn hin?”, fragt mich der alte Mann interessiert, der gerade schwerfällig humpelnd Holz vorm Haus stapelt. Den erschrockenen Blick, wenn ich Leuten unterwegs mein Ziel nenne, kenne ich ja schon von meinem Über-die Dörfer-Touren. Ich beruhige ihn mit einer lapidaren Handbewegung — sind nur 16, 17, 18 Kilometer — kein Problem. Er lacht. Er könne nach 5 (!) Knie-OPs nicht mehr so; zum Weg nach Dreiweiherhof gehe es da lang, junge Frau, sagt er und wünscht mir eine schöne Wanderung. Junge Frau! Hach… ;-)
Tief im Herbst haben sich die Farben — abgesehen in den Weinberge — schon arg zurückgezogen hier draußen. Ja, die Gegend ist wirklich ab vom Schuss. Hofland, uraltes Lehensland. Die Wiesenwege sind gut feucht und die Hosenbeine deshalb schnell nass. Das erinnert mich daran: Ab jetzt heißt es wieder Gamaschen anziehen! Heute trocknen noch mal Sonne und Wind den Stoff rasch. Glück gehabt.
Ungefähr auf der Hälfte der Strecke streifen ich wieder meine 2. Heimat — den Lemberg, den Montforter Hof und die Burg Montfort. Ziel ungezählter Sonntagsspaziergänge mit den Eltern früher. Auch das Lüßertal sehe ich drüben liegen. Meine Großeltern bauten dort ein Haus, nachdem sie den Job als Hüttenwarte auf dem Lemberg aus Altersgründen aufgegeben hatten. Oberhalb des Montforter Hofes, auf der schmalen Landstraße, die sanft um das enge Tal den Berg hoch führt, kommt mir einen Moment der Zigarrenrauch meines Opas in die Nase. Oder war es doch Kaminfeuer aus einem der Häuser unten? Eine Ewigkeit ist das her. Vorbei am Montforter Friedhof mit vier oder fünf Gräbern. Ein langer Blick zurück. Dann betrete ich Neuland.
Es geht durch den Pfarrwald. Obwohl einen Katzensprung vom Lüßerttal entfernt gelegen, war ich noch nie in dieser Gegend. Dann auf den Höhen oberhalb der Nahe wieder dieser grandios weite Blick Richtung Norden, den ich auch am Lemberg so sehr schätze. Der Binger Wald und der Hunsrück sind zu erkennen.
Quasi als Gegenstück zum Berg formt die Natur hier tiefe ovale Falten wie Klangschalen ins Land: In einer dieser Senken sehe ich südlich des Galgenbergs (337 Meter) den Heddarter Hof liegen. Obwohl ich gut 1 Kilometer entfernt bin, höre ich die Geräusche von dort als würde ich mitten auf dem Hof stehen: Ein hohler, rauer Ton als ob jemand eine Tonne über den Boden zieht. Erinnerungen werden wach an die Zeit als das einzige Telefon im Lüßerttal bei den Großeltern stand und man sich mit Rufen über das Tal verständigte. Die Resonanz der Talwände trug unsere Stimmen locker mehrere 100 Meter übers Land. Diese Weite mit Rufnähe ist typisch für diese Gegend.
Auf der Schauderheide verfranze ich mich dann ein bisschen. Die Richtung stimmt sagt der Kompass. Aber die vielen Feldwege, die abgehen vom Hauptweg verwirren mich. Schließlich stapfe ich scheinbar ewig querfeldein durch den feuchten Acker. Anstrengend. Schweiß rinnt den Rücken runter. Belohnt wird die Mühsal mit einer exklusiven Rast auf dem Hellen (312 m). Hoch über Odernheim an der Glan. Wie am Rand eines Canyons throne ich auf meiner Sitzmatte im Gras. Gut 180 Meter unter mir glitzert die Glan im letzten Nachmittagslicht. Arbeit, Autos tönen hoch zu meinem ruhigen Platz in der Sonne — mitten drin in der Zivilisation und doch irgendwie nicht. Wie für einen Moment herausgetreten aus dem gewohnten Leben.
Einige Zacken, Sackgassen und Direttissima durch Weinberge später finde ich den Weg runter in den Ort. Dabei kommen mir die Geschichten von meinem Orientierungs- und Kartographie-Lehrer Helmut Spoo in den Kopf, der uns damals im Kurs erklärte, wie man kompasstechnisch die tiefen Einschnitte norwegischer Fjorde navigiert. Ich bin mitten in Deutschland, aber einfach mal so ein Tal queren geht hier auch nicht. So steil sind die Glanhänge.
In den Beinen zwickt es gewaltig und ich bin erleichtert über die verbleibenden nur noch 2 Kilometer nach Staudernheim. Das Kloster Disibodenberg der Hildegard von Bingen lasse ich rechts liegen. Der Hildegardweg über die Disibodenberg-Treppe ist die kürzere Route zum Ziel. Wie zur Versöhnung für die Warterei am Morgen fährt mir die Bahn genau in dem Moment vor die Füße als Fahrkarte gezogen und Rucksack geschultert sind. Das nenne ich Timing! ;-)
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