Nach weni­gen Minuten bin ich in meinem Rhyth­mus. Gle­ich­mäßig set­ze ich einen Fuß vor den anderen. Atmen. Gehen. Atmen. Gehen. Steinchen knirschen unter meinen Wan­der­schuhen. In der Tiefe rauscht wasserge­waltig der Stu­iben­bach. Es ist kurz nach Sieben in der Früh. Im Stu­iben­tal ist es noch dämm­rig. Mitte August schafft es die Sonne um diese Uhrzeit noch nicht über den Kamm.
Bin im Auf­stieg zum Verbindungsjoch zwis­chen zwei markan­ten Zweitausendern der All­gäuer Alpen an der Gren­ze zwis­chen Bay­ern und Tirol: Pon­ten und Bschießer.

Alpenrosen, Latschen und Glockenblumen im Stuibental. Hintergrund Bschiesser.
Der Sonne ent­ge­gen. Auf­stieg durchs Stu­iben­tal zum Bschiesser.

Vor zwei Jahren war ich schon ein­mal dort oben. Auch im Spät­som­mer, jedoch an einem Regen­tag mit tiefhän­gen­den Wolken. Damals querte ich den Grat qua­si im Blind­flug. Ger­ade mal den Pfad vor Füßen, die roten Weg­punk­te am Boden zur Ori­en­tierung und die näch­sten Felsen sicht­bar. Von Aus­sicht, Panora­ma und dem begehrten Foto­mo­tiv [davon später mehr] keine Spur. Damals schwor ich mir: Du kommst wieder. Bei klar­er Sicht und trock­en­em Wetter!

Dranbleiben

Da bin ich wieder. Es ist so weit. Dies­mal habe ich das Auto auf dem Park­platz der Wan­nen­jochbahn abgestellt.  Heuer steige ich statt von Hin­ter­stein von Schattwald auf. Diese Route hat mir der Thi­lo vor eini­gen Jahren emp­fohlen. Habe sie mir für eine Solo-Tour aufge­hoben. Denn in aller Her­rgotts­frühe, die stade Zeit am Tag, die ich so mag, krieg‘ ich meinen Göt­ter­gat­ten niemals an den Start. Bin nun ein paar Tage alleine im All­gäu. Eine gute Gele­gen­heit, um den Vor­satz vom Som­mer 2019 auf meine Art zu verwirklichen!

Rotweißrote Wegmarke im Vordergrund. Südwände des Bschiessers im Hintergrund.
Süd­wände Bschiess­er. Vom Gipfelkreuz noch nichts zu sehen. Die Rich­tung stimmt.

Heike allein in der Bergwelt

Das Tal weit­et sich. An der Unteren Stu­iben Alpe erhasche ich einen ersten Blick auf die Fel­swände des Bschießers. Wow. Doch so steil! Ich halte mich links. Passiere die Stu­ibensen­nalpe. Hebe den Kopf. Oben ahne ich das Kar. Das Gelände unter­halb des Jochs zwis­chen meinen“ Gipfeln des Tages. Es gle­icht ein­er schüs­selför­mi­gen Hohlform, die mich mit ihren seitlichen Wän­den wie mit geöffneten Armen empfängt. Auf ihrem oberen Rand führt der Gratweg zum Pon­ten [nach links] zum Bschießer [nach rechts].

Kar zwischen Ponten und Bschiesser.
Kar zwis­chen Pon­ten und Bschiesser.

Darauf bal­ancierte ich bei meinem ersten Besuch. Das Kar mit Nebel gefüllt. Von der Schön­heit der Land­schaft zu meinen Füßen ahnte ich nichts. Jet­zt liegt sie vor mir wie ein aufges­pan­nter Fäch­er. In den Far­ben des Berg­som­mers, die in der war­men Mor­gen­sonne leucht­en: San­ftes Wiesen­grün durch­set­zt mit Dunkel­grün der Latschen, Rosarot blühen­der Alpen­rosen, Gelb der Margeriten. Sog­ar ein Klecks Altschneeweiß find­et sich. Boah. Ich habe alle Zeit der Welt. Bleibe immer wieder ste­hen und sehe mich an dieser wilden Natur satt. Heike allein in der Berg­welt. Stille.

Plöt­zlich Stim­men. Erst ist kein­er zu sehen. Dann tauchen unten Köpfe auf. Gehören einem jun­gen Paar. Guter Moment eine kleine Rast einzule­gen und die bei­den passieren zu lassen. Sportlich set­zen sie die Stöcke, nick­en mir beim näher kom­men mit einem fre­undlichen Grüß Gott!“ zu, krax­eln zügig an mir vor­bei und ver­schwinden schwup­pdi­wupp hin­ter dem unteren Schüs­sel­rand aus meinem Sichtfeld.

Bin froh, dass ich’s im eige­nen Tem­po ange­hen kann. Zwar ist die Kar­wand mod­er­at geneigt. Der Pfad schlän­gelt sich in san­ften Ser­pen­ti­nen hoch zum Joch. Aber es ist mein erster Tag in den hohen All­gäuer Bergen. Akkli­ma­tisierung tut der Mit­tel­ge­bir­g­lerin gut.

Außer­dem komme ich auf diese Weise der Her­aus­forderung kon­trol­liert näher. Den steilen Pfad durch die Felsen des Beschießers fand ich damals schon nicht lustig. Obwohl im Nebel nur die zwei Meter direkt vor meinen Füßen zu sehen waren. Bei Son­nen­schein und von 200 Höhen­meter weit­er unten betra­chtet wirkt er aber auch nicht ger­ade entspan­nend. Atmen, rankom­men lassen. Aben­teuer solch­er Art gehe ich am lieb­sten ohne Druck und in meinem Tem­po an.

Schroffe Felswände unterhalb des Bschiessergipfels.
Südost­flanke des Bschiessers.

Sich sammeln

Ein beherzter Schritt und ich ste­he auf dem oberen Rand der Gebirgss­chüs­sel. Das Joch ist erre­icht. Freude. Dur­chat­men. Doch dann stockt mir der Atem. Unmit­tel­bar vor mir: 1000 Höhen­meter freier Fall ins Hin­ter­stein­er Tal. Hui! Grad mal bauch­ho­he Felsen trenne mich vor dem Abgrund. Nach dem ersten Schreck wage ich einen zweit­en Blick runter nach Hin­ter­stein. Hol­la die Wald­fee! Samm­le mich.

Abbruchkante des Jochs zum Hintersteiner Tal.
Abbruchkante des Jochs zum Hin­ter­stein­er Tal mit Gratweg vom Pon­ten aus gese­hen. Als hätte ein Riese in den Schüs­sel­rand gebis­sen. Gut zu erken­nen: mein Aufstiegspfad.

In Kontakt

Inzwis­chen bin ich gar nicht mehr alleine. Die ersten Gipfel­stürmer kom­men vom Bschießer runter. Sind ver­mut­lich über die Bergsta­tion der Wan­nen­jochbahn oder über die Zipfel­salpe her­aufgekom­men. Der ver­meintlich bedrohliche Steig zum Gipfelplateau ver­liert beim Näherkom­men seinen Schreck­en. Dachte ich mir’s doch! Der Fels unter den Schuhen ist trock­en und grif­fig; knif­flige Stellen sind mit Seil ver­sichert. Nach weni­gen Minuten ste­he ich auf Gipfel Nr. 1. Sieht doch ver­dammt anders aus als damals. Damals war ich an dieser Stelle schon klatschnass. Mut­tersee­le­nalleine auf 2000 Metern. Im Nebel. Kein Sichtkon­takt zur Welt. Mit klam­men Fin­gern knip­ste ich ein Self­ie. Ganz wohl war mir da nicht mehr in mein­er Haut. Machte mich zügig an den Abstieg zur Zipfelsalpe. 

Zwei Jahre zuvor: Klatschnasse Gipfel­stürmerin 2019 unter­halb des Bschiessergipfels.

Heute gehe ich ganz nach vorne bis zum Gipfelkreuz. 

Gipfel des Bschiessers bei klarer Sicht.
Zwei Som­mer später: Gipfel des Bschiessers bei klar­er Sicht.

Von dort sehe ich die klitzek­leinen Häuser in Schattwald. Da unten bin ich vor ein paar Stun­den los! Ein Ehep­aar drückt auf die Tube. Für den späten Nach­mit­tag ist Gewit­ter ange­sagt. Wer weiß, wo sie heute noch hin­wollen. Aber es ist ja noch nicht ein­mal Mit­tag. So lasse ich mich auf der Erde nieder. Schicke ein erstes Bewe­is­fo­to nach Hause und melde der heimatlichen Ein­satzzen­trale“ am Rhein: Alles in Ord­nung! Genieße das Oben­sein. Das Panora­ma. Die Natur.

Mission erfüllt?

Dann komme ich endlich dazu, das begehrte Grat­mo­tiv (siehe Artikelfo­to) zu fotografiere. Wie oft habe ich Blog­gerkol­le­gen ins­ge­heim um diesen gigan­tis­chen Blick benei­det. Nun habe ich ihn auf dem eige­nen Chip! Mis­sion ist erfüllt! Oder?

Gemach! Noch ste­ht die Über­schre­itung des Jochs in voller Länge an. Eigentlich habe ich die ja schon vor zwei Jahren gemacht, aber die zählt nicht. Damals lagen die Tiefen rechts und links im Ver­bor­ge­nen. Zählt nicht.

Wanderer auf dem Pfad vom Bschiessergipfel runter aufs Joch.
Abstieg Bschiess­er Rich­tung Pon­ten. Aus dieser Per­spek­tive ver­liert der Pfad seinen Schrecken.

Déjà-vu und Durchblick

Erst geht es ein Stück retour vom Bschießer aufs Joch runter. Dann passiere ich den wei­thin sicht­baren Weg­weis­er am Abzweig runter zur Stu­ibensen­nalpe und gehe auf schmalem Fels­band aufwärts in die Felsen des Pon­ten. Ganz schöne Stei­gung. Emp­fand ich damals beim Run­ter­steigen viel weniger steil. Aber heute kommt mir eh‘ alles wie zum ersten Mal vor. Neu sind mir tat­säch­lich die let­zten Meter zum Gipfel Nr.2. Die habe ich damals auf­grund ein­er War­nung vor nassem, rutschigem Gestein wohlweißlich aus­ge­lassen. Noch ist das Gipfelkreuz nicht zu sehen. Nur ein Fel­sturm. Bissl Herzk­lopfen. Dann bin ich drum herum. Dann ist das Ziel zum Greifen nah. 

Heike vor dem Gipfelkreuz des Ponten im Nebel.
Pon­ten in Wolken. Kommt mir bekan­nt vor. Aber immer­hin: So nah dran war ich 2019 nicht.

Nach kurz­er Inspek­tion der Gegeben­heit­en entschließe ich mich, es beim Augenkon­takt zu belassen. Ein schmaler Schwe­be­balken aus Felsen liegt zwis­chen dem Kreuz und mir. Muss nicht sein. Vom sicheren Sitz­plätzchen aus, sehe ich alles, was es zu sehen gibt. Die Szener­ie verän­dert sich allerd­ings von Minute zu Minute. Im engeren und im weit­eren Sinn: Urplöt­zlich tauchen Scharen von rast­bedürfti­gen Berg­wan­der­ern auf. Dieses Fleckchen scheint sehr beliebt zu sein. Außer­dem zieht es zu. Zeitweise sitzen wir in den Wolken. Ab und zu tut sich ein Guck­loch zum Hin­ter­stein­er Tal auf. Déjà-vu-Erlebnis.

Blick durch Wolken auf Bergweg zum Zierleseck.
Blick vom Pon­ten Rich­tung Zier­leseck. Rechts geht es zur Willer­alpe und runter ins Hin­ter­stein­er Tal.

Mein Rück­weg führt durch die anspruchsvollen Felsen an der Ost­flanke des Pon­ten abwärts zum Zir­leseck. Hier kam ich 2018 fix und foxi oben an; nach einem echt hap­pi­gen Ser­pen­ti­nen-Auf­stieg ab Willer­salpe. Die lasse ich heute rechts liegen und gehe weit­er Rich­tung Süden; auf die Berg­wacht-Hütte der Rohnen­spitze (1992 m ü. NN) zu. Lei­der ist der Balkon beset­zt. Daher beschließe ich – die Gewit­ter­ansage im Kopf —  sofort durchs abgele­gene Pon­tental zurück nach Schattwald abzusteigen.

Latschenwurzeln im Vordergrund. Blick ins Pontental nach Schattwald runter im Hintergrund.
Blick ins Pon­tental und zur Rohnen­spitze. Die Geröll­halde (hin­ter der Wurzel) geht unten in einen ein­fachen Weg durch Wald über.

Die Tour endet wie sie begonnen hat: Ok. Ein kleines biss­chen anders als mor­gens, näm­lich müde. Aber immer noch in völ­liger Ruhe, ziem­lich zufrieden und mit einem Fuß vor dem anderen im eige­nen Tempo.