Klar! Dieses Artikelfoto ist natürlich kein Postkartenmotiv. Wie es dieser Blick bei einer Bergtour trotzdem auf Platz 1 schaffte, davon handelt diese Geschichte.
Vier Fahrgäste im Giebelbus?!
Es ist kurz vor Sieben. An der Bushaltestelle des Giebelbusses stehen immerhin drei Menschen mit Rucksack und Wandermontur. Drei!? Immerhin bin ich nicht die Einzige, die an diesem regnerischen Augusttag auf die Idee kommt, mit dem ersten Bus ins Hintersteiner Tal zu fahren! Beruhigt mich irgendwie.
Von Hintersteiner Tal ins Iller Tal
Mein Plan für heute ist: von Tal zu Tal. Vom Hintersteiner Tal ins Illertal. Ab Giebelhaus über die Schwarzenberghütte, Engeratsgundsee, Koblat‑, Laufbichelsee über das Koblat zur Bergstation Höfatsblick. Von dort mit der Nebelhornbahn nach Oberstdorf runter und mit Bahn und Bus zurück nach Hinterstein.
Zu Fuß über den Berg ins Nachbartal. Diese Vorstellung reizt mich. Deshalb steht diese Route übers Koblat schon länger auf meiner Bucket List.
Warum bergauf und warum ausgerechnet bei Regen, Heike?
Meine Me-Time im Allgäu neigt sich dem Ende zu. Ganze zwei Tage bleiben mir noch. Ein Tag mit Regenvorhersage. Ein Tag mit Sonnenvorhersage. Würfeln? Ich entscheide pragmatisch.
Die Koblattour ist eine Art Expedition in eigener Sache. Es geht um Selbsteinschätzung. Ich will meine Bergauf-Leistungsfähigkeit testen. Ich weiß zwar, dass ich beim Bergaufgehen immer über den angegebenen Zeiten liege. Aber ich möchte der Sache auf den Grund gehen und herausfinden, wie viel genau ich darüberliege. Quasi um einen Ausgangswert bzw. Vergleichswert für die Planung von zukünftigen Touren und fürs Training zu bekommen.
Bei der zweiten Tour, die ich unbedingt auch noch realisieren möchte bei diesem Aufenthalt, geht es mir vor allem um Ausblick, Panorama und Sicht!
Auch wenn für das Koblat unisono schönes Wetter und die Bergabvariante (vom Edmund-Probst-Haus zum Giebelhaus) empfohlen wird (vor allem wegen der spektakulären Sicht) entscheide ich daher, das Koblat bergauf und an einem Regentag zu machen. Nach einem detaillierten Wettercheck. Versteht sich!
Das Für und Wider
Bergwanderung bei Regen? Ist das nicht sehr gewagt? Der Wetterbericht sagt Bewölkung, mäßigen Wind aus West und leichten Regen mit einer Wahrscheinlichkeit unter 40 Prozent voraus. Eine Kaltfront ist laut DAV-Bergwetter nicht zu erwarten. Sprich‘ die Gefahr von unvorhergesehener Nebel- bzw. Wolkenbildung unter 2300 Metern ist gering.
Nebel wäre ein KO-Kriterium. Vor Begehung des Koblat bei Nebel bzw. tiefen Wolken wird nämlich ausdrücklich gewarnt. Bei einer Recherche im Nachgang finde ich im Netz den Bericht nur einen einzigen Fall, wo sich eine Wanderin auf der Hochebene bei Nebel verirrt hat. Zum Glück mit gutem Ausgang.
Das Koblat ist ein Klassiker. Eine ausgewiesene Familientour. Die Tourenberichte schwärmen von einer Genusstour.
Knapp 10 Kilometer, 1060 Höhenmeter im Aufstieg.
Das Gelände ist trotz der Höhenmeter im Aufstieg relativ einfach. Es besteht an keiner Stelle Absturzgefahr. Auf dem Koblat selbst geht es relativ flach zu. Du bewegst Dich an jedem Punkt auf einer Höhe um die 2000 Metern. Ich komme zum Schluss: kontrollierbares Risiko.
Früher als erwartet beginnt es zu tröpfeln und zu allem Überfluss: ein Bär!
Der Blick morgens aus dem Fenster zeigt: Trocken. Die Wolken sind hoch. Alle über 2000-Meter-Gipfel sind vollständig sichtbar. Im Tal hängen keine tiefen, wabernde Wolken. Die Luft relativ warm. Alles läuft nach Plan.
Vorsichtshalber nehme ich den ersten Giebelbus des Tages. Damit ist im Fall eines Abbruchs der Tour die Rückfahrt mit den Giebelbus gesichert. Die Alternative wäre ein 10-Kilometer-Fußmarsch nach Hinterstein.
An der Station „Säge“ (ein Haltepunkt vor dem Giebelhaus) steige ich aus. Alleine. Stark in den Beinen gehe ich den ausgewiesenen Pfad Richtung Schwarzenberghütte an. Es fängt an zu tröpfeln. Früher als im Wetterbericht angekündigt. Ziehe die Regenhose an, packe den Schirm aus und ziehe den Regenschutz über den Rucksack. Nach wenigen Metern: schützender Wald.
Plötzlich ein Bär. Er schleicht sich in meinem Kopf an. In den letzten Wochen gab es Berichte über ein Exemplar, das im Hintersteiner Tal gesichtet worden sein soll. Inklusive verschwommenem Beweisfoto. Und dieser Film läuft unvermittelt in meinem Kopfkino. Ich steige auf dämpfenden Nadelteppich den Waldpfad hoch. Dabei wären doch jetzt Krach machen angesagt, um den Bär in die Flucht zu schlagen. Oder? Prüfende Blicke ins Unterholz. Bevor weitere Horrorszenen aufploppen, drücke ich auf die mentale Stopptaste. Reguliere mich erfolgreich. Gleich setze ich die Beine wieder ein Ticken beherzter!
In der Zeit aber kein Kaffee
Die Schwarzenberghütte (1388 m ü. NN) erreiche ich tatsächlich in der Zeit, die unten auf dem Wegweiser stand. Super! Insgeheim habe ich gehofft, die Hütte wäre geöffnet und ich könnte einen heißen Kaffee bekommen. Aber so früh am Morgen liegt das Haus ruhig da. Kein Bär. Nur ein mürrischer Frühaufsteher, der die erste Zigarette des Tages vor der Tür raucht.
500 Höhenmeter auf 2 Kilometer
Weiter geht’s bergab. Nur kurz. Dann baut sich vor mir der steile Anstieg der Tour auf. Mein Blick wandert 500 Höhenmeter und 2 Kilometer nach oben. Auf einem Felsband thront mein erstes Zwischenziel. Die Seehütte auf 1887 m ü. NN. Der winzige Anhaltspunkt markiert die Lage des Engeratsgundsee.
Das Gelände wird stufiger, unebener. Nehme die Stöcke dazu und das Tempo raus. Richte die Augen zum Himmel: Wolken weiterhin konstant sehr deutlich über 2000 Metern. Leichter Nieselregen.
Es scheint, als wäre ich an diesem Vormittag die einzige Wanderin hier. Seit dem wortlosen Gruß an der Schwarzenberghütte keinen Kontakt mehr gehabt. Da: Stimmen tönen übers Tal. Kühe. Und Menschen! Ich kann Worte unterscheiden aber nicht inhaltlich verstehen. Niemand zu sehen. Tut trotzdem gut.
Aus dem Rahmen aber alles im Lot
Dann bin ich genau unter dem Felsband. Noch einmal um die Kurve. Das Seeplateau ist erreicht. Der anstrengendste Part ist gewuppt. Blick auf die Uhr: An diesem Punkt liege ich bereits deutlich (!) über der angegebenen Gehzeit. Habe ich so erwartet und einkalkuliert. Es ist erst Mittag. Daher besteht kein Grund sich Sorgen zu machen. Und endlich bin ich nicht mehr alleine.
Ein Hirte springt über die Hügel. Und verschwindet kurz darauf in der Seehütte aus neuem, hellem Holz. Wohl eine der Stimmen von vorhin! Rauch steigt aus dem Schornstein auf. Die haben es da drin jetzt sicher warm und gemütlich, denke ich. Inzwischen fühlen sich die Klamotten klamm an; trotz Schirm. Schirm wird allerdings anstrengend. Hier oben geht Wind. Er rüttelt am tragbaren Dach. Die Jacke ist eh nass. Egal. Schirm kommt in den Rucksack.
Die schickt der Himmel!
Der Große Daumen (2208 m ü.NN) rechts und die Laufbichlkirche (2042 m.ü NN) links. Zwischen diesen mächtigen Wächtern hindurch steigt der Pfad durch und über Felsen hinauf aufs Koblat. Bissl Kraxelei. Nix Wildes! Aber damit habe ich nicht gerechnet. Fühle ich mich das erst Mal ein bisschen einsam. Reguliere mich.
Just in diesem Moment taucht oben eine Gruppe Wanderer auf. Erleichterung. Insgeheim habe ich mit diesem Gegenverkehr gerechnet. Koblat-Geher, die im Edmund-Probst-Haus übernachtet haben, um morgens die Tour (Teil der Wandertriologie Himmelsstürmer) zu gehen. Uff, richtig kalkuliert!
Einen muss ich wohl übersehen haben …
Dann bin ich schon am Laufbichlsee und kurz darauf kommt der Koblatsee in Sicht. Allerdings habe ich dafür wenig Aufmerksamkeit. Mein Blick scannt rote Punkte auf den Felsen. Die Wegweisung im Hochgebirge. Hier auf der Karst-Hochfläche mit den schroffen Felsgebilden heißt es – vor allem bei diesem trüben Wetter: Adlerauge sei wachsam. Schnell ist eine Markierung übersehen. Und Du folgst der falschen Fährte. Wieder kommt mir eine Gruppe entgegen. Gute 20 Meter über mir. Komisch. Da bin ich wohl auf der falschen Spur. Schnell steige ich querbeet nach oben zurück auf dem Pfad zurück. Atme durch.
Irgendwie sieht es heute anders aus als damals
Allmählich erreiche ich bekanntes Terrain. Jedenfalls türmen sich der östliche und der westliche Wengenkopf (2207 + 2235 m ü. NN) rechter Hand auf. Da oben verläuft der Hindelanger Klettersteig. Dort, die Zick-Zack-Spur durch den abartig steilen Geröllhang: Das muss der zweite Notabstieg des Klettersteigs sein, über ich den ich damals mit Bergführer Franz runter bin. Irgendwie sieht das Koblat heute ganz anders aus als ich es in Erinnerung habe! Aber da beißt die Maus kein Faden ab: Hier war ich schon!
Gefühlt müsste es bald geschafft sein. Vom Laufbichlsee bis zum Bergsattel sind es nur 3 Kilometer.
Mut für meinen Mut
Dann komme ich doch in Wolken. Atmung und Herzschlag legen einen Takt zu. Nicht wegen einer Steigung. Leichte Hektik macht sich in mir breit. Inzwischen bin ich klatsch nass. Oben herum. In den letzten Stunden hat der Regen die Jacke durchdrungen. Ganz wohl fühle ich mich nicht in meiner Haut. Reguliere mich.
Aus dem Weiß taucht ein Wanderer mit Hund auf. Grüßt mich freundlich. Und geht behänd nach unten weiter. Dann – Juchu! — der erste Wegweiser seit der Seehütte: Bergstation Höfats, 20 Minuten! Mein Mut macht einen Freudensprung.
Endlich auf dem Bergsattel!
Und in der Waschküche. Der Westwind treibt die warme Luft über Oberstdorf und Seealpe in den Talkessel. Dort kühlt sie an den Felshängen ab, kondensiert, wälzt sich über die Kante, füllt den Kessel unterhalb des Gipfels mit Nebel und hüllt die Bergspitze in für das Auge undurchdringbaren Nebel. Folge: Keine Bergstation, kein Nebelhorn. Sie sind unmittelbar vor mir. Aber nicht zu sehen.
Jedoch eine vierköpfige Familie in Turnschuhen direkt vor mir: „Wo geht es hier zum Nebelhorngipfel?“ Wortlos zeige ich auf den Wegweiser direkt neben ihnen.
6 Stunden (gemütlich)
Für einen kurzen Moment freie Sicht. Da! Mein Ziel! Die Bergstation Höfats. Von meinem Standort aus wenige Gehminuten entfernt. Kein Postkartenmotiv. Für mich jedoch an diesem Tag der aller‑, aller‑, allerschönste Anblick. You see?!
Blick auf die Uhr: Ich habe von der Säge bis zum Bergsattel Pi mal Daumen 6 und 20 Minuten gebraucht. Das Online-Planungstool rechnet 4,5 Stunden Gehzeit bergauf und bergab. Bei einer Recherche finde ich Angaben zwischen 5,5 und 6,5 Stunden Gehzeit bergauf und bergab. Ich liege also im Bereich “gemütlich”.
Genuss zum Schluss
Wenn Du nass und kalt bist, gibt es nichts Angenehmeres und Wohltuenderes als trockene Klamotten. Zum Glück habe ich dieses Mal an Wechselzeug gedacht. Auf der Toilette der Bergstation ziehe ich mich um. Was ein Genuss!
Dann gönne ich mir einen sündhaften teuren aber wohltuend heißen Kaffee im Restaurant der Bergstation. Das pure Glück auf Erden.
Warm, trocken und zufrieden setze ich mich auf eine Bank. Gucke ein bisschen Leute. Lasse mein Abenteuer Revue passieren. Schlendere entspannt zum Einstieg. Gebe gelassen allen Eiligen Vorfahrt. Warte eine Kabine mit Bergblickplatz ab.
Dann schwebe ich. Gemütlich 900 Höhenmeter mit der schicken Gondel der neuen Nebelhornbahn ins Tal. Dann kurzärmelig, stolz und mit Sonne im Gemüt zu Fuß Richtung Bahnhof. Meine Jacke am Rucksack zum Trocknen befestigt weht wie Supermans respektive Superwomans Mantel.
Koblat, ich komme wieder! Dann aber bei Postkartenwetter! Und auf der Genussroutenvariante: von oben nach unten! Halt wie Kenner empfehlen.
Schreibe einen Kommentar