Anfang Oktober. Ein Dienstag. Kurz vor 9 Uhr. Wanderparkplatz in Bremm am Calmont. Es herbstelt an der Mosel. Mehr als 8/9 Grad hat es nicht. Im Tal liegt Hochnebel. Vom steilsten Weinberg Europas sind nur die „Füße“ zu sehen.
Peu à peu trudelt das Trüppchen ein. Den Reißverschluss des Anoraks bis unters Kinn hochgezogen. Schultern Richtung Ohren. Hände tief in den Taschen. Mit schiefem Grinsen im Gesicht ein vorsichtiger Blick hoch in die Wand. Ganz sicher ist zu diesem Zeitpunkt keiner, ob die Entscheidung heute hier zu sein, eine gute war. Kurzes Hallo mit Ellenbogengruß. Dann platzt es raus: „Ich war kurz davor abzusagen!“
Übungstag „Dranbleiben“! Drei bergmutige Höhenängstler haben sich angemeldet. Wir kennen uns. Alle waren schon einmal bei mir. Vor längerer Zeit oder vor Kurzem. Die Motive für den heutigen Tag sind unterschiedlich: nach ein, zwei Jahren Üben und Ausprobieren Courage für den nächste Schritt, bei der Herausforderung eine Schippe drauflegen, im abgesicherten Modus, mit Gleichgesinnten und mit mir an der Seite. Oder gleich nach der Ertüchtigung im Basiskurs Mut gefasst, um den lang gehegten Traum von der Eroberung des Calmonts zu verwirklichen.
Wir machen uns auf. Mit ruhigem Schritt durchs morgenschläfrige Dörfchen. Hoch in den Weinberg. Zum Einstieg des Klettersteigs. Ich beschreibe die Route. Teile der Gruppe den Plan für den Tag mit möglichen Optionen mit. Erkläre den Ablauf. Frage nach Erfahrungen. Was ist vom Kurs vom Training hängen geblieben? Was wurde angewendet? Was funktioniert gut? Wo hakt es noch? Wiederhole Techniken. Mein Job wird heute sein: Machen lassen. Dem Selbstvertrauen Raum geben. Schauen, beobachten. Ruhe reinbringen. Da sein. Notfalls. Noch einmal wiederholen. Darauf achten und sorgen, dass meine Schützlinge die Schlüsselstellen konzentriert angehen und mit gutem Gefühl erleben; die bewältigte Herausforderung mit gelingender Erfahrung verbinden. Wichtig!
Mitten in der Woche kaum was los hier. Freie Bahn. Gut so! Die Höhenängstler können sich voll und ganz auf das Terrain fokussieren. Habe bewusst einen Wochentag gewählt. Denn auf dem beliebten Steig kann es am Wochenende richtig ungemütlich voll werden. Dann kommt uns doch einer entgegen. Mit Kamera in der Hand. „Der Weg wird einfacher!“, nickt er uns aufmunternd zu. Aus der Gruppe: Kein Kommentar. Ich lächle ihm zu. Denke mir meinen Teil. Er meint es gut. Allerdings beruhen Bewertungen auf Selbsteinschätzung. Was für ihn passt, muss nicht für andere passen. Alles wissen das. Wir kommen gut voran. Auch wenn es in Abschnitten für den einen oder die andere anspruchsvoll wird.
Unerwartet bricht die Sonne durchs Whiteout. Leise Ahnung macht sich bei mir breit. Es könnte doch noch ein toller Tag werden. Rein wettermäßig. Ein Lichtblick im wahrsten Sinn des Wortes. Die Nebelwand reißt auf. Oben Himmelblau. Unten zwischen Wolkenfetzen glitzert das Flüsschen. Ahs und Ohs. Handys werden gezückt. Diese selten mystische Stimmung gilt es einzufangen. Die Mienen erhellen sich. Eine von der Natur schon gewärmte Felsbank wird zur willkommenen Ausruhoase vor der nächsten Leiter.
„Für solche Momente gehen wir doch in die Berge“, rufe ich meinem Trüppchen fröhlich zu. Die Stimmung steigt proportional mit der Sicht über die glasklar unter uns liegende Moselschleife. „Von dort sind wir gekommen!“ „Was wir schon gepackt haben, Wahnsinn!“ „Pause machen tut gut!“ Und dann kommen sie ins Erzählen. Der Zweifel vom Morgen klärt sich: In der Pension hing ein großes Foto von der zentralen Kletterstelle des Calmonts an der Wand. Was von den Wirten verlockend gedacht war, führte bei diesem Gast genau zum Gegenteil: „Nix wie weg hier! Ich sage ab!“
Gut, dass sie bei mir im Kurs war. Sie war vorbereitet auf solche Situationen. Eigentlich harmlos. Aber für Höhenängstler eine echte Prüfung. Sie aber hat die Flinte nicht zu früh ins Korn geworfen. Sich auf das eigene Einschätzungsvermögen verlassen. Hat sich trotz aller Zweifel dem Ungewissen gestellt. Sternstunden im Leben einer Coach. Ich bin froh, dass sie sich für den Calmont und gegen die Angst entschieden hat. Wie sich im weiteren Verlauf der Tour herausstellen sollte, wäre ihr andernfalls nämlich eine wichtige Erkenntnis durch die Lappen gegangen.
Gute zwei Stunden später. Alle haben die 1,5 Kilometer durch den alpinen Weinberg erfolgreich gemeistert. Nach dem Aufstieg zur Todesangst – ein exponierter Fels mit Fahne hoch über Edinger Eller – sitzen wir nun entspannt an einem der Aussichtspunkte auf der Calmonthöhe in der warmen Sonne. Alleine sind wir in zwischen nicht mehr. Eine überschaubare Anzahl Sonnenhungrige hält mit uns das Gesicht nach Süden.
Genießt diese geschenkte Zeit in der Natur mitten in der Woche. Meine Leutchen freuen sich zusätzlich an dem noch neuen, aber gar nicht so üblen Gefühl, recht nah an der Kante entspannt die Füße baumeln lassen zu können. Zeit für ein erstes Resümee. „Was war Euer schönster Moment im Klettersteig?“, frage ich in die Runde. „Joah, hätte ich heut Früh echt nicht gedacht, dass ich das so gut hinkriege und auch noch mit gutem Gefühl!“ „Eine klasse Erfahrung, danke Dir dafür“! Breites Grinsen in den Gesichtern. Und dann die dritte im Bunde: „Also …“, kurzes Überlegen, „… das war tatsächlich der Moment als ich nach der Kraxelstelle – tatsächlich die vom Foto — auf dem Stein saß, mich sammelte und mir unvermittelt der Gedanken in den Kopf schoss: Ich kann’s ja doch!“
Den Übungstag am Calmont biete ich einmal im Jahr exklusiv für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meines Kurses bzw. eines Einzeltrainings „Höhenangst überwinden“ an.
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