Ein Klassiker der Grat-Wanderungen im Allgäu ist die Tour über den Nagelfluhkamm. Vom Hochgrat (1834 Meter) bei Oberstaufen bis zum Mittagberg (1451 Meter) bei Immenstadt. Die 29 Bergkilometer mit 16 Gipfeln können Wanderer mit Kondition und Trittsicherheit an einem Tag schaffen, wenn sie am Hochgrat sehr früh morgens aufbrechen. Zumal um 17 Uhr der Sessellift am Mittag das letzte Mal ins Tal fährt. Eine Mehrtagestour stelle ich mir persönlich entspannter vor.
Wer sich die 16 Gipfel (noch) nicht zutraut, aber trotzdem Nagelfluhgratboden unter seinen Wanderschuhen spüren will und Naglfluhweitsichtluft schnuppern möchte, dem empfehle ich die „Vier-Gipfel-Tour“ aus dem Rother Wanderführer „Allgäu 3“ von Gerald Schwabe und Dieter Seibert. Sie ist mit der Schwierigkeitsstufe „Rot“ kategorisiert, rund 11 Kilometer lang und mit einem Höhenunterschied von 350 Meter hoch und 1190 Meter runter angegeben. Praktischerweise beginnt sie mit einer Gondelfahrt.
Deshalb fahren wir ins Weißachtal bei Oberstaufen. Zur Talstaion der Hochgrat-Bahn. Die schmale, kurvige Straße ist dieses Mal weniger schmal und weniger kurvig als wir von unserer letzten Fahrt dorthin in Erinnerung haben. Der Linienbus ist durch, bevor es enger wird. Ganz am Ende der riesigen Parkfläche finden wir einen Platz fürs Auto. Die Anreise mit dem PKW garantiert an diesem weit abgelegenen Ort Unabhängigkeit vom letzten Bus und beruhigt die Nerven.
Gelbe Vierergondeln tragen uns gemächlich die 800 Meter zur Bergstation hinauf. Sie sehen auch so aus, als ob sie das mit dem Hochtragen nicht erst seit gestern machen. Zeit, sich umzuschauen. Die ersten Gipfel reihen sich dekorativ nebeneinander und werden als mögliche Illustration für das Blog auf den Chip des Smartphones gebannt. Mit einem entschiedenen Ruck schwingt die Kabine in die Station. Der Ausgangspunkt unserer Wanderung auf 1708 Meter Höhe ist erreicht.
Bevor wir uns nach Westen aufmachen, wenden wir uns nach Osten und steigen zum Hochgrat auf. Noch frisch und voller Tatendrang nehmen wir natürlich den steilen Steig an der Kante statt den alternativen breiten Weg. Der Nagelfluhkamm besteht aus in Millionen von Jahren zusammengebackenen Kieselsteinen eines Urmeeres. Die pflastern den steilen Pfad. Jeder Tritt will aufmerksam gesetzt werden. Rutschige Angelegenheit bei Regen, da braucht es wenig Phantasie. Gerade ist es warm und trocken. Wenn wundert es da, dass heute das Fotomotiv „Ich alleine am Gipfelkreuz“ ins Wasser fällt. „Würden sie bitte mal zur Seite gehen?!“ Stellt Euch das Szenario bei gefühlt hundert Gipfelstürmern vor. Dann also Gipfelfoto ohne Gipfelkreuz; dafür vor blauem Himmel und grünem Allgäu am unteren Bildrand. Der Atem geht einen Tick schneller. Das Herz schlägt einen Schlag mehr als normal. Der Blick von hier oben hat was von „nicht alle Tage“. Am Horizont die 2500er der Allgäuer Hochalpen. Die Namen der Markantesten habe ich inzwischen intus: Mädelgabel und Trettachspitze.
„Öffne den Blick für eine andere Welt.“, steht an der Porta Alpinae mit den Himalaya-Fahnen. Holztore dieser Art stellt der Künstler Günter Rauch in den Alpen auf. Immer an Orten, wo Du Dich insgeheim fragst: „Wie hat er die schweren Holzbalken dafür hier hoch gekriegt und wie schafft er es, dass diese Tore an diesen eigentlich unmöglichen Stellen Wind und Wetter trotzen?“
Der Weg zum zweiten Gipfel beginnt verführerisch mit Absteigen. Der Führer kündigt eine Leiter an. Dabei schwebt mir eine vor Augen, die einige Kilometer östlich an einer Felswand des Nagelfluhkamms steht und geschätzte 10 Meter hoch ist. Damals wählte ich die Umgehung. Jetzt würde sie mich echt reizen. Angesichts meiner Vorstellung ist das Exemplar dieses Mal eine Enttäuschung. Vielleicht 3 Meter und im Vorwärtsgang leicht machbar.
Weiter rauf und runter. Über rund geschliffene Kiesel. An der Kante entlang. Seilversichert und mit Bewuchs rechts und links vom Weg. Zwischen den Bäumen tun sich regelmäßig Aussichten auf, die einem in zuverlässiger Regelmäßigkeit den Atem nehmen. Oder sind es die Passagen, die wie Stiegen zum Dachboden rauf zum dritten Gipfel führen, die das Herz lauter klopfen lassen als gewohnt. Die Luft ist sehr warm. Das kühle Wasser tut gut in der trockenen Kehle. Im Schatten der alten, knorrigen Fichten und Weißtannen lässt es sich angenehm rasten. Auf einer dicken Wurzel als Hocker schmeckt das Käsebrot besonders lecker; unter Dir grüne Weiden und nach oben von hier aus gesehen erstmal kein Weiter.
Nach zweieinhalb Stunden haben wir zwar kaum Strecke gemacht, aber meine Oberschenkel fühlen sich am zweiten Tag in den Bergen so an, also ob ich auf dem Weg zum Mount-Everest-Base-Camp schon so gut wie am Ziel wäre. Ich zähle durch. Die vier Gipfel der Vier-Gipfel-Tour liegen hinter uns: Hochgrat, Seelenkopf, Hohenfluhalpkopf und Eineguntkopf. Die Falkenhütte sollte also hinter der nächsten Ecke liegen, denke ich zuversichtlich ungezählte Anstiege und Ecken lang, bis sie dann nach einem Felszacken tatsächlich auftaucht; mindestens 150 Meter unter mir auf einer breiten Alpmatte gelegen und mit einer bereits georderten, eiskalten Apfelsaftschorle auf einem ihrer Terrassentische. Das mit der Schorle weiß ich natürlich erst als ich unten bin.
Was danach folgt, ist schnell erzählt: Anderthalb Stunden stetig bergab. Erst über mit Querbalken gesicherte Stufen, dann auf schmalen Pfaden, die schließlich in breite Wege und zwischendrin asphaltierte Passagen übergehen. Mir fallen die offensichtlich sehr alten, sehr stolzen Bäume auf. Später lese ich, wir sind tatsächlich auf dem Weg der alten Bäume gewandert. Sieben der Baum-Urgesteine Deutschlands stehen hier: Ulmen, Bergahorn und die drittgrößte Weißtanne des Landes.
Gerade als meine Beine melden, für heute sei es doch nun wirklich genug, kommen wir auf der Straße zur Talstation raus. Der Parkplatz hat inzwischen wieder Kapazität. Trotz der 10 Bergkilometer in den Waden gehe ich tapfer bis ans ganz hintere Ende, wo auf meine müden Füße luftige Sandalen im Kofferraum warten.
Zugegeben: für Mittelgebirgskondition und grad mal den zweiten Bergurlaubstag ist die rote Vier-Gipfel-Wanderung schon eine Nummer, was die Anforderung an die Kräfte betrifft. Kann man machen. Entspannter stelle ich mir für weniger Geübte dieses kleine, überschaubare Nagelfluh-Abenteuer in der zweiten Ferienwoche nach ein paar leichteren Touren für den Muskelaufbau vor. Nichtsdestotrotz: Mit Trittsicherheit und Schwindelfreiheit auf gesicherten, mäßig ausgesetzten Pfaden sollte diese Wanderung auch für Hügel-Tiroler machbar sein. Es lohnt sich. Diese Gratwanderung vermittelt einen guten Eindruck vom Nagelfluh-16er und das in überschaubaren 4 bis 5 Stunden. Das betrifft die sagenhaften Weitblicke über die Allgäuer Alpen sowie das Alpenvorland Richtung Bregenzer Wald und Bodensee. Aber auch was die Untergründe und Höhenmeter anbelangt, die einem da oben unter die Füße kommen.
Das stelle ich mir so vor in meinem nicht mehr ganz so jugendlichen Leichtsinn. Denn aus eigener Erfahrung kenne ich die östliche Nagelfluh ab Hochgrat [die mit den 16 Gipfeln] nur auf dem Abschnitt Mittagberg bis zum Ornach. Von dort sind wir vor Jahren über die Mittelbergalpe zurück nach Immenstadt abgestiegen. Die über 20 Kilometer dazwischen kenne ich aus Erzählungen und von Bildern.
Übrigens: Den Namen “Four Fab Summits des Allgäus” musste ich erfinden, weil es ihn noch nicht gab. Mit dem Namen-erfinden bin ich in guter Gesellschaft. Die Vier-Gipfel-Tour firmiert seit neuestem als “Luftiger Grat” und ist ein zertifizierter Premiumweg.
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