Es ist ein Gefühl, als ob eine unsichtbare Hand an Dir zieht. An Deinen Beinen, an Deinen Schultern. Und zwar Richtung Abgrund. Du meinst, Du würdest gleich runterspringen in die Tiefe, wenn Du nicht aus dem Stand die Flucht ergreifst. Dabei liegt es Dir völlig fern das zu tun: Runterspringen.
Die Rede ist von einem merkwürdigen Empfinden an exponierten, ausgesetzten Stellen in den Bergen, das mit den Fachbegriffen „Appel du vide“, „High Place Phenomenon“ oder „Ruf der Leere“ Namen bekommen hat.
Vom „Ruf der Leere“ habe ich schon in Berichten von Bergführern gelesen, meine Kunden erzählen über solche Erfahrungen und äußern diese auch vor Ort im Kurs oder Coaching und auch ich persönlich kenne Gedanken [oder sagen wir besser: Empfindungen] wie diesen von früher her: „Wenn Du zu nahe an die Kante kommst, verlierst Du die Kontrolle, irgendwas ist dann stärker als Du, zieht Dich über den Abgrund und Du stürzt unweigerlich ab.”
Ich bin mir zu 100% sicher, dass ich keinerlei Absichten hege, irgendwo runter zu springen. Und trotzdem habe ich es bis vor einiger Zeit an bestimmten Stellen noch so empfunden: Ich laufe Gefahr zu springen. So ein Quatsch. Einerseits. Andererseits: das Gefühl ließ sich damals nicht leugnen.
Dieser schrägen Sache musste auf den Grund gegangen werden!
Im Web habe ich dann den einen oder anderen Artikel dazu gefunden. Viel wurde zum „Ruf der Tiefe“ [im Internet] nicht veröffentlicht. Aber über den Suchbegriff „Drang zu springen“ bin ich fündig geworden. Ergebnis: Das Kind hat Namen bekommen [siehe oben], es gibt wissenschaftliche Untersuchungen darüber, aber leider keine abschließende Erklärung, die naturwissenschaftlichen Erfordernissen genügt.
Die Forscher gehen davon aus, dass dieses Phänomen mit einer kognitiven Verwechslung zwischen bewussten und unbewussten Aspekten im Zusammenhang mit Tiefe zu tun hat. Dieses Missverständnis beruht auf einer hohen Sensibilität bei durch Angst bedingten Körpersignalen: zum Beispiel veränderte Atmung und veränderter Herzschlag.
Was in unserem Kopf abläuft, mache ich mit einer anschaulichen Schilderung verständlich:
Ich gehe an einem Abgrund entlang oder stehe an einer ausgesetzten Stelle. Eigentlich in einem absolut sicheren Abstand. Das objektiv keine Gefahr besteht, ist mir bewusst. Trotzdem reagiert mein Körper unmerklich mit Angstsignalen. Aufgrund meiner hohen Sensibilität nimmt mein Gehirn, diese Signale trotzdem wahr. Es kommt zum Widerspruch. Die realisierte Sicherheit einerseits und die physischen Angstreaktionen andererseits bringen mich unbewusst in einen Zwiespalt. Die Wissenschaft spricht von „kognitiver Dissonanz“. „Kognitive Dissonanz“ kann unser Gehirn auf Teufel komm raus nicht ausstehen. Automatisch versucht es diese Widersprüche aufzulösen und lässt sich dabei auch so einiges Mögliche und Unmöglich einfallen. Ohne, dass wir da verstandesmäßig auch nur ein Wörtchen mitzureden oder mitzuentscheiden hätten.
Der „Ruf der Leere“ ist offenbar so ein Paradebeispiel der intuitiven Kreativität unseres Oberstübchens.
Den Widerspruch zwischen bewusster Sicherheit und unbewusster Angst löst das Gehirn mit einem mentalen Trick auf. Es mogelt uns eine Erklärung für unser panisches Zurückschrecken an einer eigentlich sicheren Stelle unter.
Den Gedanken: „Ich muss versucht gewesen sein, zu springen.“
Auf diese Weise wird das instinktive Bedürfnis, sich an einer eigentlich sicheren Stelle, in Sicherheit zu bringen, vom Bergwanderer als Sog in die Tiefe missinterpretiert.
Um seiner Aufgabe als Schutzengel gerecht zu werden, macht das Gehirn einen Kunstgriff und legt sich damit quasi in eigener Sache eine legitime Erklärung für die unerklärbare Angst zurecht.
Wie gesagt, diese Erklärung ist nur ein Versuch zu verstehen, warum Menschen, die kein bisschen die Absicht haben in die Tiefe zu springen, trotzdem das Gefühl haben, genau dieses im nächsten Moment zu tun. Wissenschaftlich untermauert ist diese Erklärung nicht. Aus welchen Gründen auch immer, verliefen die ersten Studien dazu im Sande und kein Doktorand und keine Doktorandin verspürte bisher offenbar Interesse diesem Phänomen weiter auf die Spur zu kommen.
„Appel du vide“ oder „Ruf der Leere“ klingt schon recht destruktiv und fatalistisch. Ich persönlich finde deshalb den Begriff „High Place Phenomenon“ passender. Das Phänomen fühlt sich aber deshalb nicht weniger angenehm an. Vor allem macht es Angst und nährt Selbstzweifel.
Aber es besteht kein Grund zur Sorge. Du bist nicht krank oder depressiv. Jedenfalls macht Dich dieses Gefühl nicht dazu.
Und: Du bist der Sache nicht hilflos ausgeliefert!
Der Aspekt der Sensibilität gegenüber Angstreaktionen des Körpers gibt einen sehr konkreten Hinweis, wo wir praktisch ansetzen können. In meinen Kursen und Coachings „Höhenangst überwinden“ arbeiten wir genau auch daran: die Körpersignale der Angst kennen, wahrnehmen und in den Griff bekommen. Und in der Tat beobachten meine Kunden und ich, wie der „Ruf der Leere“ im Laufe des Trainings immer leiser wird.
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