Nie mehr Verlaufen! Diese Vorstellung ist für viele Wanderinnen und Wanderer ein Traum. Wie viele Probleme, Ängste und Unsicherheiten wäre damit aus der Welt. Fehlende, zerstörte Wegweiser würden niemand aus der Fassung bringen. Unverständlich formulierte Wegbeschreibungen würden keinen mehr verwirren.
Verlockende Vorstellung, oder?
Um dem verlauffreien Wandern auf die Spur zu kommen, lade ich Dich zu einem kleinen Gedankenspiel ein.
Mit einer außergewöhnlichen Frage: Was wäre eigentlich, wenn Du Dich tatsächlich nicht mehr verlaufen könntest?
Zum Beispiel, weil Du von Natur aus eine Art GPS [Global Positioning System; deutsch Globales Positionsbestimmungssystem)] im Kopf hast. Ein Navi, das genauso funktioniert, wie ein Satelliten gestütztes Gerät, nur ohne zusätzliche Stromquelle, ohne Softwareupdates, ohne digitale Karten laden. Oder weil du über 100% Orientierungsfähigkeit verfügst. Der Grund ist für dieses Experiment eigentlich zweitrangig.
Einfach Ziel visualisieren, fertig. Den Startpunkt ermittelt Dein Gehirn automatisch, weil es kriegt ja mit, wo Du gerade stehst. ;-)
Was wäre, wenn Verlaufen beim Wandern faktisch unmöglich wäre?
Weniger Stress aber auch weniger Freude
Klar: Sich zu verlaufen auf einer Wanderung bringt diverse Unannehmlichkeiten mit sich:
Um nur eine zu nennen: Die unsägliche Diskussionen mit dem/den Wanderpartner bzw. Wanderpartnern. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen über den richtigen Weg. Das birgt jede Menge zwischenmenschlichen Explosionsstoff.
Wenn Du Dich nicht mehr verlaufen kannst, dann existiert diese Stressquelle nicht. Alle wären d’accord über die Richtung.
Was ein Segen!
Sich nicht mehr verlaufen können hat aber auch einen entscheidenden Nachteil.
Da die Orientierung quasi wie von alleine funktioniert, bist Du wie mit Scheuklappen unterwegs: Die Dinge rechts und links des Weges, die Landschaft, der Weg selbst werden für Dein Gehirn uninteressant. Es kennt ja den Weg und braucht keine zusätzlichen Informationen, Orientierungspunkte, Wegmarken, um die Richtung beizubehalten.
Wenn Du nicht mehr der Gefahr ausgeliefert bist, Dich zu verlaufen, gehen Dir notwendige Anreize verloren, Dich mit der Umwelt auseinanderzusetzen.
Das geht leider auch zu Lasten einer wichtigen Quelle der Wanderlust: dem Spaß und der Freude, die zum Beispiel aus dem Entdecken und Erkunden von unbekannten Landschaften erwächst.
Wandern ist keine Wundertüte mehr, bzw. wäre schon noch, aber sorry, dieser natürliche Unterhaltungswert bleibt Dir versagt, geht im wahrsten Sinn des Wortes komplett an Dir vorbei.
Weniger Probleme aber auch weniger Bewegung
Angenommen Du kannst Dich nicht mehr verlaufen, dann hast Du beim Wandern mit einem Schlag ein Haufen Probleme weniger, um die Du Dich kümmern musst.
Du brauchst keine Hilfsmittel für die Orientierung anschaffen: GPS-Gerät, Wanderkarte oder Kompass.
Du musst Dich nicht mit Technik und abstrakten Hilfsmitteln rumschlagen. Kein nerviges, fummeliges Programmieren der kleinen Computer, kein die Geduld an den Anschlag treibendes Installieren digitaler Karten oder von Software. Keine Fragezeichen in den Augen mehr beim Studieren von Wanderkarten. Kein Rätselraten mehr beim Anblick der Kompassnadel.
Du brauchst Dich nicht ständig um geladene Akkus bemühen, dran denken, die Karte und den Kompass einzustecken.
Auch die Wanderplanung entfällt komplett. Einfach das Ziel vor das innere Auge beamen und schon geht’s los Richtung Ziel.
Wenn Du Dich nicht mehr um die Navigation kümmern musst, dann fallen damit einerseits nervige Probleme weg. Andererseits wird Dein Leben damit auch ärmer. Ärmer an Herausforderungen.
Die Krux: Menschen brauchen Herausforderungen, um zu lernen, um weiterzukommen, um persönlich zu wachsen.
Weniger Hürden, die genommen werden wollen, weniger Probleme, die gelöst werden dürfen, bedeuten unterm Strich: Stillstand bei Fähigkeiten und Wissen.
Uff. So krass habe ich mir die Konsequenzen eines problemfreien Lebens selbst auch noch nicht klargemacht.
Sich nicht mehr kümmern müssen, oder sagen wir in diesem Fall, sich weniger kümmern müssen, zieht noch einen weiteren Aspekt nach sich und der hat mit Anstrengung zu tun.
Weniger Anstrengung aber auch weniger Motivation
Wenn Du Dich nicht mehr verlaufen kannst, dann wird Orientierung zum Kinderspiel — mühelos und leicht.
Dein Kopf bringt Dich ohne eigenes Zutun an jedes Ziel dieser Erde. Du wanderst wo und wohin Du willst. Deine Wanderoptionen vervielfachen sich. Keine mentalen Hürden und Barrieren mehr. Kein Planen, kein Vorbereiten mehr. Keine Standortbestimmung unterwegs. Das Ende von manchen Ungewissheiten, Ängsten und Grübeln, die uns das Wanderleben schwer machen.
Das wäre doch schön, oder?
Einerseits: Ja klar! Wer grübelt schon gerne?
Andererseits: Unser Gehirn tickt nicht so. Unser Oberstübchen mag es weder zu anstrengend noch zu leicht.
Gar keine oder zu wenig Anstrengung [physisch und mental] geht zu Lasten der Motivation. Anstrengung, Ziele aus eigener Kraft, durch eigenes Tun zu erreichen ist eine zentrale Quelle unseres inneren Antriebssystems.
Motivation ist notwendig an Anstrengung gekoppelt.
Keine Anstrengung führt deshalb mittel- bis langfristig zu weniger Lebensfreude, weniger Yeah-Gefühl und leider auch zu im weniger Lust sich anzustrengen. Da kommt ein echter Kreislauf in Gang.
Dein Motivationssystem geht früher oder später in die Knie; das wirkt sich nicht nur beim Wandern, sondern auch in anderen Lebensbereichen aus.
Im Klartext: Wenn Du Dich nicht mehr verlaufen kannst und Dich deshalb weniger anstrengen brauchst beim Wandern, dann geht Dir Antrieb verloren. Antrieb, den Du zwingend brauchst, um Wege zu gehen, Ziele zu erreichen; beim Wandern, wie im Privaten oder im Beruf.
Fazit:
Wenn Verlaufen faktisch unmöglich wäre, dann würdest Du von einigen Aufgaben und Problemen befreit. Stimmt.
Das Wandern wäre in mancher Hinsicht leichter, weil Du alles, was mit Orientierung zu tun hat, vom Hals hättest.
Aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich der Preis dieser Erleichterung.
Weniger Anreize sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen, weniger Dinge, um die man sich kümmern muss, weniger Probleme, die es zu lösen gilt, bedeutet unterm Strich eben auch weniger Lebenslust und Lebensfreude, weniger Erfolgserlebnisse, weniger Über-sich hinauswachsen, weniger Glücksgefühle, weniger Zufriedenheit.
Wenn Du Dich nicht mehr verlaufen könntest, wäre das Wandern einfach langweilig — für Kopf und Körper.
Übrigens: Wusstest Du, dass Du hast tatsächlich eine Art Navi im Kopf hast?! Das Teil funktioniert allerdings nur, wenn Du es aktiv benutzt.
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