„Das war wohl keine gute Idee“, meinte ein Kunde neulich im telefonischen Vorgespräch für ein Höhenangst-Praxis-Einzelcoaching. Was war passiert? In meiner Ausschreibung kündige ich einen Steig im Mittelrheintal als Trainingsterrain an. Er konnte nicht widerstehen und hat sich ein Video im Netz angeschaut, das den Steig dokumentiert. Nachdem er die Bilder gesehen hatte, war er derart beeindruckt, dass er danach einige Tage brauchte, um sich zu sammeln.*
Bergvideos – für die einen das Stillen der Sehnsucht nach Abenteuer.
Für andere unerschöpfliche Quelle für zermarterndes Kopfkino.
Wenn ich von Bergvideos spreche, meine ich hier Filme [meist von Bergwanderern während einer Tour gedrehte], die Terrain, topografische Beschaffenheit, Untergründe und Verlauf von Wegen und Pfaden im Mittelgebirge und Hochgebirge zeigen und dem Betrachter suggerieren, er sei selbst unmittelbar im Geschehen. Solche, die man schaut, wenn man etwas über das Gelände erfahren will.
Besonders für Menschen mit Höhenangst sind derartige Bergvideos mit Vorsicht zu genießen.
Was Menschen mit Höhenangst über die Wirkung von Bergvideos wissen müssen
Es ist verständlich, dass ich als Mensch mit Höhenangst vor einer Wanderung durch unbekanntes Terrain jede nur greifbare Information begierig aufsauge, die mich davor bewahrt, mich in Situationen zu begeben, denen ich eventuell nicht gewachsen bin. Keine Frage!
Aber Bergvideos bergen für Menschen mit Höhenangst Risiken und Nebenwirkungen, die genau das Gegenteil davon bewirken, was sie eigentlich leisten sollen: ein sicheres Gefühl machen.
Bergvideos gießen bei Menschen mit Höhenangst Öl ins Feuer, sorgen für schlaflose Nächte, Selbstzweifel und Grübelschleifen. Sie sind kontraproduktiv.
Vor allem Bergwanderer, die versuchen mit der Höhenangst zu leben, ohne etwas aktiv dagegen zu tun, manövrieren sich damit Schritt für Schritt immer tiefer ins Dilemma hinein.
Bergvideos sind als Entscheidungsgrundlage ungeeignet
Bergvideos bzw. Filmaufnahmen von Wegen und Terrain werden angeschaut, weil sie dem Betrachter Realitätsnähe vorgaukeln. Man hofft, einen Eindruck zu erhaschen, der einen in die Lage versetzt, den Schwierigkeitsgrad und die Herausforderungen des Geländes einschätzen zu können.
Aber: Bergvideos sind für diesen Zweck ungeeignet. Denn sie geben die reale Situation vor Ort nur scheinbar realistisch wieder. Sie beinhalten jede Menge Stolperfallen, die damit zusammenhängen, was das menschliche Gehirn an Informationen braucht, um adäquat zu reagieren.
Zweidimensional – Videos bügeln Berge optisch platt
Videos sind bewegte Fotos. Sie bilden die dreidimensionale Situation vor Ort zweidimensional ab. Videos machen Berge optisch flach. Da fehlen wichtige Informationen, um beispielsweise Formationen im Gebirge, Fels, Wegverlauf, Ecken, Kanten, Steigungen am Berg realistisch, naturnah darzustellen. Informationen, die unser Gehirn braucht, um die Lage richtig einzuschätzen. Vor allem, wenn wir wenig direkte Erfahrung mit den Bergen haben. Sie können zeigen, ob nur Fels oder Bewuchs. Ob Sicherungen (Seil, Krampen, Steigbügel) vorhanden sind oder nicht. Ob es sich um einen Gratweg handelt oder um einen Weg, der nur zu einer Seite abfällt. Mehr nicht.
Wie tief Tiefen tatsächlich sind. Wie steil ein Weg nach unten führt, lässt sich oft nur schwer im Bergvideos aus machen. Um die Steilheit eines Weges ansatzweise korrekt zu vermitteln, muss mit speziellen Perspektiven gearbeitet werden, die nur semiprofessionelle bzw. Profis hinbekommen. In Hobby-Bergvideos trifft man selten auf solche Hilfsperspektiven.
Auch die Breite eines Weges lässt sich nur schwer im Bergvideo herausfinden. In der Totalen sieht ein Weg zum Beispiel meistens schmaler aus, als er in Wirklichkeit eigentlich ist.
Um die topographische Beschaffenheit eines Geländes korrekt beurteilen zu können, bzw. zu meinem eigenen Können, meinen eigenen Fähigkeiten in Bezug setzen zu können, muss ich mich direkt vor Ort befinden.
Zum einen können Steilheit und Hangneigung per Video aus technischen Gründen nur wage bzw. gar nicht korrekt dargestellt werden. Zum anderen zieht unser Gehirn für die Beurteilung einer Bergsituation viele weitere Details heran, die im Bergvideo gar nicht rüberkommen können: z.B. Farben, Farbnuancen [siehe unten], Gerüche, Licht. Ganz zu schweigen von unserem eigenen physischen und mentalen Zustand bei der Bergwanderung, der beim Betrachten eines Bergvideos in der warmen Stube gar nicht gegeben ist.
Höhenangst ist nicht gleich Höhenangst, sondern ist eine sehr individuelle und situationsbezogene Sache.
Auf visuelle Wahrnehmung beschränkt
Auf wenn Videos vertont sind, sie vermitteln die Situation am Berg in erster Linie visuell. Gerade deshalb lieben wir als Augenwesen die Videos! Um aber zu entscheiden, kann ich einen Weg machen oder nicht, spielen noch ganz andere Sinneseindrücke eine Rolle. Beschaffenheit des Weges: Spüre ich, dass meine Füße sicher stehen oder meine ich aufgrund der Bilder, dass ich auf diesem gerölligen Weg niemals festen Stand finden kann. Seilsicherung: Spüre ich in meiner Hand, dass das Seil am Fels meinem ganze Körper genug Halt gibt oder schätze ich es aufgrund des Films doch sehr dünn und instabil ein [vielleicht habe ich noch nie eine solche Seilsicherung in meinen Händen gehalten und erfahren, wie sie einem Sicherheit geben kann].
Farben: Schon eine leichte Abweichung eines Grüntons ins Graue kann beeinflussen, ob wir Bewuchs als beruhigend oder als wenig verlässlich [vertrocknet, spröde] wahrnehmen. Wer fotografiert oder filmt – sei es nur mit dem Handy – weiß, wie schwierig es ist, Farben naturgetreu auf den Chip zu bannen.
Nur Ausschnitt des Geländes
Bergvideos zeigen Berge durch ein Objektiv betrachtet. Egal ob Weitwinkel, Tele, Makro oder Normalobjektiv: Wir sehen pro Einstellung nur eine Perspektive. Ok, inzwischen machen 360 Grad-Aufnahmen die Runde, die sich nach oben und nach unten schwenken lassen und suggerieren, dass der Betrachter mit den eigenen Augen wahrnimmt. Aber die menschliche Wahrnehmung ersetzen auch solche High Tech-Objektive nicht. Wir sehen immer nur einen Ausschnitt der tatsächlichen Situation.
Und zwar den Ausschnitt, den der Videomacher ausgewählt hat. Das heißt, der Blick durch das Kameraobjektiv ist nicht objektiv, sondern immer subjektiv. Wir sehen, was der Bergwanderer oder der Werbevideomacher, der gedreht hat, wollte, das wir sehen. Hobbyfilmer wollen vor allem zeigen, wie mutig sie waren. Sie werden den Schwerpunkt in der Regel besonders auf die schwierigen Stellen legen, die sie erfolgreich bezwungen haben [oft kommt das aber über die Bilder wegen der fehlenden Dreidimensionalität oft gar nicht richtig rüber, siehe oben]. Marketingvideos richten den Blick vor allem auf die schöne und angenehmen Perspektiven: Weiten, Ausblicke, Rast am Gipfel, einfache Passagen. Also in der Regel nicht das, was wir persönlich brauchen, um die Anforderungen eines Geländes gemäß unserer Fähigkeiten einzuschätzen. Man will sich ja nicht potenzielle Gäste verbrämen, sondern die Schokoladenseiten seiner Tourismusregion in den Fokus rücken.
Bergvideos führen Höhenängstler auf den Holzweg
Film und Fotos können also niemals die eigene Wahrnehmung vor Ort ersetzen – und seien sie technisch noch so professionell und ambitioniert gemacht.
Bergwanderer mit Höhenangst, die solche Videos nicht zur Unterhaltung anschauen, sondern als Bewertungsgrundlage für die Machbarkeit heranziehen, sind also hochgradig gefährdet, falsche Schlussfolgerungen zu ziehen. Diese können zu unangenehmen Nebenwirkungen führen.
Bergvideos jagen Höhenängstler unnötig ins Boxhorn
Videos von Wegen, Terrain und Gelände jagen Höhenängstler unnötig ins Boxhorn. Sie stellen die Situation schwieriger dar als die eigentlich ist. Zum Beispiel, Indem sie knifflige Passagen unverhältnismäßig in den Mittelpunkt stellen, einfache Stellen auslassen oder extra dramatisieren, weil der Ersteller des Videos sich als Held positionieren möchte [siehe oben].
Das macht Menschen, die eh Probleme mit dem Terrain in den Bergen haben Angst. Sie laufen Gefahr, die Schwierigkeit über zu bewerten. Man gibt der Angst nach und verwirft das Vorhaben.
Aber wie soll man denn wissen, ob wirklich der komplette Weg ausgesetzt ist oder ob es sich nur um eine ganz kurze Passage handelt, die man durchaus in der Lage wäre zu gehen?
Wer sich auf das verlässt, was Bergvideos zeigen, läuft Gefahr, sich um gelingende Erfahrungen zu bringen und sich damit im Kampf gegen die Höhenangst selbst ein Bein zu stellen, sich selbst zu blockieren und in Sachen Schwindelfreiheit keinen Meter weiterzukommen.
Ich kenne aus meiner Verwandtschaft und aus dem Freundes- und Bekanntenkreis genügend Menschen, die Wege in den Bergen allein aufgrund eines Angst einflößenden Videoeindrucks niemals gehen würden; weder mit ihren bergerfahrenen Partnern, Freunden noch mit Bergführern bzw. Trainern und natürlich schon gar nicht alleine. Diese Leute nehmen sich einiges; vor allem die Chance, das eigene Selbstvertrauen zu stärken, indem sie Probleme beim Bergwandern aktiv angehen und sie damit Schritt für Schritt lösen.
Bergvideos öffnen der Höhenangst weiter Tür und Tor
Umgekehrt bergen Bergvideos die Gefahr, dass Situationen weniger anspruchsvoll eingeschätzt werden als sie tatsächlich sind. Bergvideos können die Anforderungen auch verharmlosen. Folge ist, dass Bergwanderer mit Höhenangst sich in Sicherheit wiegen, falsche Schlüsse ziehen, losgehen, sich selbst vor Ort angesichts der wahren Gegebenheiten unter Druck setzen [weil man vielleicht das Gesicht in der Wandergruppe nicht verlieren möchte] und unbeabsichtigt überfordern. Mit der Konsequenz, sich damit echt in Gefahr zu begeben. Vor allem bereitet man schlechten Erfahrungen auf diese Weise weiter den Boden und öffnet damit der Höhenangst weiter Tür und Tor.
Der direkte, persönliche Eindruck ist das non plus ultra!
Bergvideos vermitteln nicht viel mehr als einen ersten Eindruck, eine Anmutung. Eine verlässliche Bewertungsgrundlage können sie niemals sein, das liegt in der Natur der Sache.
Bergvideos sind ungeeignet, um den Schwierigkeitsgrad und die Herausforderungen eines Geländes realistisch einzuschätzen. Sie bergen die Gefahr falscher Schlussfolgerungen. Daraus ergeben sich diverse Nebenwirkungen, die kontraproduktiv bei Höhenangst sind.
Bergwanderer blockieren sich mit dem unkritischen Anschauen von Terrainvideos in jedem Fall selbst. Insbesondere, wenn sie sie für bare Münze nehmen.
Letztlich geht nichts über den direkten, persönlichen Eindruck vor Ort.
Sich auf eine unzuverlässige Informationsquelle bewusst einzulassen, verunsichert zusätzlich und bringt die Angstspirale richtig in Schwung.
Alternative Informationsquellen zum Bergvideo
Bergwanderer mit Höhenangst sind oft in einer Zwickmühle. Einerseits wollen sie gerne mit dem Partner, den Freunden unbeschwert in den Bergen wandern. Andererseits wollen sie partout Situationen am Berg meiden, die sie in die Bredouille bringen.
Dazu brauchen sie Informationen über die Gegebenheiten, das Terrain, die Topographie vor Ort und greifen nach jedem Strohhalm. Auch wenn er noch so dünn ist.
Ich rate Menschen mit Höhenangst möglichst keine Bergvideos vor einer Tour zu schauen. Unser Gehirn lässt sich von bewegten Bildern allzu leicht aufs Glatteis führen. Besser, man schaut Fotos an. Da wissen wir ganz genau: das ist nur ein Bild.
Um sich erste Anhaltspunkte zu verschaffen, kann man außerdem Routenbeschreibungen lesen und sich an den ausgewiesenen Schwierigkeitsgraden orientieren.
Aber aufgepasst: Auch bei Bildern, textlichen Beschreibungen und Kategorisierungen gilt: hier waren andere Menschen am Werk. Menschen, die keine Höhenangst haben, unter Umständen ein völlig anderes Sicherheitsbedürfnis haben als man selbst hat und möglicherweise bestimmte Absichten verfolgen [z.B. Tourismus ankurbeln].
Ich vertrete die Strategie des „Sich selbst ein Bild von der Situation machen“, gute Wanderplanung mit Kartenmaterial plus Risikomanagement.
Erstens habe ich persönlich bei meinen Bergwanderungen die Erfahrung gemacht: Tun ist einfacher als gedacht. Vor Ort sieht die Welt immer anders aus als in Magazinen und Wanderführern.
Zweitens braucht man eigentlich gar nicht auf den Berg zu steigen, um die Herausforderungen vorab auszumachen. Wanderkarten zum Beispiel sind eine hervorragende Möglichkeit, um die topographischen Gegebenheiten auch am Berg vorab eindeutig zu identifizieren. Wer Karten lesen kann, weiß vorher, ob ihn auf der geplanten Route ein Gratweg erwartet oder nicht, wo es richtig steil wird und wo es weniger steil ist [In meinen Karte- und Kompasskursen lehre ich das Kartenlesen].
Drittens ist in den Bergen immer Risikomanagement angesagt – Höhenangst hin, Höhenangst her. Das bedeutet: die Tour wagen, aber immer mit der unbedingten Option umzukehren und abzubrechen, wenn sich vor Ort rausstellt, dass eine Passage für einen nicht machbar ist. Aber dran denken: Allein den Versuch als Erfolg verbuchen! Dranbleiben!
Eine weitere Option ist, den Weg mit professioneller Unterstützung wagen. Damit meine ich, eine Route mit Bergführer zu gehen bzw. sich einer geführten Gruppe anzuschließen. Das gilt insbesondere für das Hochgebirge. Damit habe ich selbst gute, stärkende Erfahrungen gemacht als ich diesen Sommer meinen Traum vom alpinen Gratweg in den Allgäuer Alpen verwirklicht habe. Auf diese Weise habe ich herausgefunden, dass ich dem Weg inzwischen vollkommen gewachsen bin und in der Lage bin, in Zukunft noch ganz andere Routen selbstständig in Angriff zu nehmen.
Wenn Du besonders ängstlich bist beim Bergwandern, meide Bergvideos. Sie machen Dich unnötig kirre, führen Dich leicht auf die falsche Spur und bewirken eher das Gegenteil von dem, was Du damit bezweckst: auf Nummer sicher gehen.
*Der Kunde, von dem ich am Anfang erzählt habe, hat trotz Bergvideo seinen Mut wieder gefunden und sich für das Höhenangst-Coaching angemeldet! ;-)
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