Die Direttissima von Niederheimbach am Rhein nach Rheinböllen am nördlichen Rand des Soonwaldes steht schon länger auf meinem Tourenplan (12 Kilometer, Peilung 250°). Mildes Wetter und Aussicht auf einen Sonnentag beförderten meinen Entschluss, die Route noch in diesem Jahr anzugehen – zum Winteranfang zwischen den Jahren.
Auf der Karte hatte ich mir eine Landschaftsdurchquerung am nördlichen Rand des Binger Waldes herausgesucht, die neue Ansichten und Aussichten versprach. Oberhalb des Heimbachtals, das ich schon bei früheren Begehungen bis fast in den hintersten Winkel erkundet hatte, entdeckte ich beim Kartenstudium eine großflächige Hochebene mit Nord-Süd-Verlauf. Die Wiesen am Hirtenborn. Ein Naturschutzgebiet. Gut, das würde zwar bedeuten, dass ich von der Ideallinie abweiche. Aber für eine Wanderung über offene Wiesen mit Weitblick über die Rheinhöhen nehme ich einen Knick gerne in Kauf.
Schnapsidee? Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, bei dieser Gelegenheit das winterliche Morgenlicht zu fotografieren. Ende Dezember geht die Sonne in unseren Breiten um 8.23 Uhr auf. Bei Streckenwanderungen benutze ich für An- und Abfahrt den öffentlichen Nahverkehr. Um mit Bus und Bahn rechtzeitig am Ausgangspunkt zu sein, entschloss ich mich deshalb, bereits um kurz nach Sieben in Mainz aufzubrechen. Aufstehen um Sechs. Mitten im Winter. Und das auch noch im Urlaub. Fotografen sind ein verrücktes Volk.
Nebel. Der Blick aus dem Küchenfenster versetzt meiner Vorfreude schon früh einen kleinen Dämpfer. Morgenlicht fotografieren. Ob das was wird heute? Licht ja. Aber Sonnenlicht? Zur Bushaltestelle laufe ich jedenfalls im Dunklen. Die Luft ist kalt und nass. Kaum ein Mensch ist am letzten Montag des Jahres um diese Uhrzeit auf den Beinen.
Auch im Nahverkehrszug nach Niederheimbach nur vereinzelt Publikum. Ein paar Pendler, die zwischen den Jahren zur Arbeit müssen. Die Dunkelheit draußen macht die Fensterscheibe innen zum Spiegel. Ich betrachte darin Mitreisende in den Sitzen vor und hinter mir; fotografiere mich selbst beim Fotografieren. Alleinunterhaltung während der einstündigen Fahrt im Bummelzug mit 30 Minuten Aufenthalt in Bingen!
Der Niederheimbacher Bahnsteig liegt direkt am Rhein und heute noch trostloser als sonst in der Dämmerung. Der Nebel ist kurz vor Sonnenaufgang merklich heller. Zwei Frauen mit Kopftuch und langen Röcken fühlen sich hier unbeobachtet. Die eine zupft — den Rocksaum bis zu den Knien hochgeschlagen — die langen Hosen zurecht, die sie drunter trägt.
Durch den Ort geht’s zum Zuweg des Rheinburgenwegs. Niederheimbach mit Weihnachtsschmuck ist eine neue Erfahrung. Lichterketten, Nikoläuse an der Dachrinne, Engel mit Tannenkleid und goldenen Flügeln, Basteleien am Dorftannenbaum. Bis auf zwei Herrschaften mit großen Koffern keine Menschenseele auf der Straße. Erstaunlicherweise wird es oben in den nebelverhangenen Weinbergen lebendiger als vermutet. Vierbeiner haben ihre Besitzer zum morgendlichen Gassigehen aus den warmen Betten getrieben. Wenigsten bin ich nicht alleine. Schon ein bisschen gruselig bei dieser Witterung und um diese Uhrzeit im Nebel unterwegs zu sein. Die Wegmarke des Rheinburgenwegs ist der einzige Farbtupfer.
Richtig hell wird es 1,5 Kilometer später auf Höhe von Oberheimbach. Am hellsten ist es im Osten. Richtung Franzosenkopf und Salzkopf. Die Sonne macht sich bemerkbar. Wenn auch unten bei mir, im hintersten Eck des Tals, im Wald, noch fett der Nebel hängt. Ich laufe durch den mittelalterlichen Grenzgraben zwischen Oberdiebach und Oberheimbach, der noch heute Gemarkungsgrenze ist. Offenbar ein Lieblingsplatz der Wildschweine. Der schmale Pfad, der direkt am Heimbach in den Wald hineinführt, zeugt von ausgiebigen Matschbädern. Hundert Meter über mir reflektiert unter hellblauem Himmel das Drahtgespann eines Weinbergs die ersten Sonnenstrahlen. Könnte doch was werden mit meinem Morgenlichtplan!
Tatsächlich. Gegen 10 Uhr überwindet die Sonne die über 600 Meter hohen Bergrücken im Südosten; jetzt reicht die Wärme aus. Dringt auf 331 Höhenmetern, auf die ich stetig und doch unmerklich vom Rheinufer aus hochgestiegen bin, durch. Jetzt muss es fix gehen. Der Zauber des ersten Lichts währt kurz. Schnell die Kamera aus dem Rucksack. „Das frühe Ausstehen hat sich doch gelohnt!“, schießt es mir durch den Kopf. Zufriedenheit und Ruhe beschreiben mein Gefühl in diesem Moment treffend. Für Minuten fange ich die besondere Stimmung aus Bodennebel, Geäst und Licht gefluteter Luft ein.
Als der Weg den Heimbach quert komme ich in unbekanntes Terrain. Ich werfe einen Blick auf die Karte, orte meinen Standpunkt und kontrolliere mit dem Kompass die Peilung. Der Weg wird steiler. Über eine Distanz von rund 800 Metern steige ich durch den Eckwald zur Hochebene auf 450 Metern rauf. Oben angekommen, begrüßen mich blauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Mütze und Handschuhe wandern in den Rucksack und ich mit Frühlingsgefühlen am 28. Dezember, die mich bis zum Ziel in ihrem Bann halten. Wärme, Wiesen, Weite. Durchatmen. Hin und wieder erhasche ich einen Blick auf die Nebeldecke, die mittags noch immer über dem Rhein und seinen Seitentälern liegt. Ich darf im Freien sein. Was ein Glück! Am Abzweig nach Manubach ändere ich die Richtung und schlage den Weg durchs Rothbachtal ein; ein breiter, erdiger Forstweg über die Felder. Noch 5 Kilometer bis Rheinböllen.
Rast auf einer einfachen Holzbank oberhalb von Dichtelbach. Beine und Füße gemütlich ins strohige Gras gestreckt. Windräder und die nahe Autobahn untermalen die Frühlingsatmosphäre mit monotonem Grundrauschen. Ein Jogger dreht seine Runde und grüßt freundlich. Schöne Laufstrecke hat er hier. Es ist so warm, dass ich ewig sitzen könnte; zwischen den nördlichen Hänge des Binger Waldes und dem Bopparder Staatsforst.
Im Westen der Hochsteinchen (648 Meter) im Soonwald. Die Landschaft sieht viel versprechend naturnah aus dort drüben. Eine neue Wanderidee entsteht. Werde ich mir auf der Karte näher Auf der alten Römerstraße von Trier nach Mainz laufe ich runter zum Ziel nach Rheinböllen.
Karte: Naturpark Soonwald-Nahe – Blatt 3. Binger Wald/Stromberg/Rheinböllen – Topographische Karte 1:25.000 – ISBN 978–3‑89637–374‑8++
Verkehrsverbindung: Hinzus: Von Mainz fährt die Mittelrheinbahn jede Stunde nach Niederheimbach. Rückzus ist kniffliger. Normalerweise fährt die Buslinie 230 alle Stunde vom Rheinböllener Busbahnhof über Stromberg nach Bingen Hauptbahnhof. Ferienfahrplan im Auge behalten! Da entfallen Fahrten. Ich habe über eine Stunde gewartet. Bei winterlichen Temperaturen sicher kein Spaß. Ab Bingen geht dann regelmäßig der Zug nach Mainz zurück. Alles in allem war ich über 2 Stunden unterwegs und dann doch, von der Warterei in Rheinböllen etwas fröstelig, froh über die Tasse mit heißem Kaffee auf der heimischen Couch.
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