Als ich aus dem Rambacher Tal steige, lacht mir die Sonne mitten ins Gesicht. Spontan entscheide ich Kompass und Karte im Rucksack zu lassen. Heute will ich ausprobieren, nur nach Sonnenstand zu wandern. Von den Wiesbadener Höhen im Norden runter zum Südfriedhof (ca. 9 Kilometer).
Diese Landschaft im Osten der Stadt kenne ich. Für Rückfahrten aus dem Taunus wählen wir meistens den Weg über die Landstraße, die hier lang führt. Schon länger plane ich eine Wanderung über die Felder, die ich dabei schon oft aus dem Autofenster gesehen habe.
Kaum in Rambach aus dem Bus ausgestiegen, erwartet mich eine echte Überraschung: Am Ringwall biege ich zum Eselspfad ein und stehe vor einer Erinnerungstafel des Heimatkreises Rambach e.V. Vor AM TAG genau 131 Jahren, am 1. April 1884, ist hier die Kaiserin von Österreich, die Sissi, inkognito zum Kellerskopf gewandert. Kein Aprilscherz! ;-)
Bei quasi Kaiserinnenwetter gehe ich einen Süd/Südostkurs. Am Lindenthaler Hof vorbei über die Felder des Bergfelds und Niederfelds. Welchen Weg nehme ich an der Gabelung? Ich orientiere mich an der Sonne. Jetzt um 10 Uhr (9 Uhr Normalzeit) steht sie im Südosten — d.h. mal halblinks, mal vor mir. Die Natur bestimmt meine Richtung. Dieses Gefühl kenne ich vom Segeln. Dort ist es der Wind, der sagt, wos lang geht; hier beim Wandern ist es das Licht. Wenn die Sonne Wegweiserin ist, ist der direkte Weg manchmal nicht möglich, wie beim Segeln. Dann weiche ich über einen kurzen Abstecher nach Osten aus bis sich ein Weg in die richtige Richtung auftut. Manchmal heißt das auch querfeldein zu gehen.
Ganz ohne Karte geht es dann aber doch nicht. Denn wie ein Kompass, zeigt die Sonne nur die Richtung; um den Standort zu bestimmen, braucht es fixe Anhaltspunkte. Zwar ist die Stadt nahe und die ein oder andere Ortschaft und Bauten in der Ferne weiß ich zu deuten, aber ein- zweimal muss ich doch in die Karte schauen, um zu prüfen, wo ich bin.
Auf Höhe des Lützelfelds ist es dann Zeit, den Kurs zu ändern. Ich quere ich den Wäschbach und wandere nach Westen. Es ist Mittag. Die Sonne steht genau über der linken Schulter. Unter der A66 durch, stehe ich auf dem Lützelfeld. Wenige Schritte in südliche Richtung und dann liegt sie vor mir: meine Stadt. Vielleicht ist es genau die Stelle, die Jürgen von der Wense ( 1894–1966) vor Augen hatte als er schrieb: “Daß alles mein ist! Ich komme nach Mainz und siehe: hier ist mein Dom, der mich schon erwartet…”
Jedenfalls ist es genau der Platz, der schon lange auf meiner Wanderliste steht. Und der Blick ist exakt so eindrucksvoll, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Wer sich nicht vorstellen kann, dass Mainz über einen Höhenweg umwandert werden kann, der braucht nur hier her zu kommen. Auch wenn es diesig ist: deutlich sind die Höhen zu erkennen, die die Stadt im Halbrund rahmen.
Beeindruckend finden ich zudem, dass im dicht besiedelten Rhein-Main-Gebiet auch heute noch eine solch naturnahe Wanderung über Wiesen und Felder möglich ist. Fast so, wie es Wense in seinen “Wanderjahren” beschreibt. An manchen Stellen nimnt einem nicht die Spitze eines Funkmasts die Illusion. Heute habe ich Flecken Erde entdeckt, an denen man sich in einem unendlichen grünen Meer wähnen darf — oder zumindest in einer englischen Grafschaft — obwohl das Zementwerk um die nächste Ecke liegt. ;-)
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