Alles so schön bunt hier? Gewusel von Linien, Strichen und merkwürdigen Zeichen? „Böhmische Dörfer“ statt Orientierung? Der erste Blick in eine Wanderkarte kann in der Tat eher verwirrend als erhellend sein. Aber das ist völlig normal und hängt mit der Wahrnehmungsfähigkeit unseres Gehirns zusammen. Diese ist von Natur aus äußerst begrenzt.
Menschen nehmen selektiv wahr. Nur ein Bruchteil von dem, was wir mit den Augen wahrnehmen, wird ins Bewusstsein verfrachtet. Nur null bis fünf Prozent der angebotenen visuellen Informationen werden aufgenommen. Mit diesem Filter schützt sich das Gehirn vor einer Informationsflut. Es lässt nur so viele Informationen in unser Bewusstsein, wie es verarbeiten kann.
Die so genannte selektive Wahrnehmung führt dazu, dass wir Dinge erst nach und nach erkennen. Beispiel Wanderkarte: Zuerst sehen wir vielleicht nur Farben und Linien. Scheinbar zusammenhanglos auf dem Papier verteilt. Dann taucht plötzlich Text auf. Wir entdecken möglicherweise Namen, die uns etwas sagen. Wir werden neugierig und schauen genauer hin. Plötzlich verwandeln sich Linien,Punkte und Strukturen in Flüsse, Straßen, Gebirge, offene Flächen und Städte. Alles noch wage und unverbunden. Aber je länger wir die Karte betrachten, drehen und wenden, desto mehr Einzelheiten zeigen sich. Und wenn wir uns richtig Zeit nehmen, dann bilden sich plötzlich Zusammenhänge heraus. Muster entstehen.
In Sachen Wahrnehmung ist unsere Gehirn also eigentlich eine lahme Ente. Warum verstehen wir dann in der Regel trotzdem blitzschnell. Zum Beispiel den Text in einem Buch?
Das hängt damit zusammen, dass unser Gehirn neue Informationen mit bereits gespeicherten Informationen kombiniert. Wenn die Daten, die das Gehirn von den Sinnesorganen erhält, für eine sinnvolle Interpretation des Wahrgenommenen nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Das Lesen von Büchern haben wir gelernt. Wir verstehen Texte deshalb so schnell, weil die Buchstaben und Wörter schon in unserem Kopf gespeichert sind. Es genügen Bruchteile von Informationen, um sie so zusammenzusetzen, dass wir verstehen.
Manchmal geht beim Zusammenbauen etwas schief. Das Gehirn interpretiert Wahrgenommenes falsch. Diese Fehlinterpretationen erklären, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen. In Ausnahmesituationen kann das Gehirn auch Dinge wahrnehmen, die gar nicht da sind. Dann bastelt es sich Wahrgenommenes ausschließlich aus gespeicherten Informationen zurecht, wie beispielsweise bei einer Fata Morgana.
Dann kommt der Verstand ins Spiel und sagt: das kann doch gar nicht sein. Hoffentlich! ;-)
Wenn wir im Lesen von Wanderkarten geübt sind, dann reichen unter Umständen schon wenige Blicke, um uns zu orientieren und die eigene Position zu bestimmen. Unser Gehirn weiß, wie Wanderkarten grundsätzlich funktionieren. Die Grundstrukturen sind gespeichert und müssen nur noch mit den neuen Koordinaten zusammengebracht werden. Damit sich sein Mensch zurechtfindet, genügen ihm jetzt einige wenige Informationen.
Wenn Sie also bei Wanderkarten auf dem Schlauch stehen, dann liegt das nicht daran, dass Sie unfähig sind. Sondern es liegt viel mehr daran, dass Sie noch keine Erfahrung mit Karten haben und keine Muster und Bilder dazu in Ihrem Gehirn gespeichert haben. Sie brauchen einfach mehr Zeit, um die für Orientierung nötigen Informationen zusammenzukriegen. Sie brauchen Erfahrung.
Etwas schneller werden Sie mit Karten vertraut, wenn Sie sich die Erfahrung von geübten Menschen zu Nutze machen. In meinen Orientierungsworkshops unterstütze ich Sie gerne dabei, die Spreu vom Weizen zu trennen und die Grundprinzipien zu erkennen, auf die es beim Lesen von Wanderkarten ankommt. Und zwar so, dass Sie schon nach kurzer Zeit Erfolge erleben und den Spaß an der Sache behalten!
Übrigens: Das mit dem länger, öfter und aufmerksamer schauen und mehr sehen gilt für ungeübte und geübte Wanderkartenleser gleichermaßen. Denn auch bei vermeintlich Bekanntem sind wir auf diese Weise in der Lage immer wieder Neues zu entdecken! Wanderkarten sind da wie ein gutes Buch: eine wahre Fundgrube auch wenn man sie schon zig mal studiert hat!
Schreibe einen Kommentar