Wenn Messner von der schwarzen Wand schreibt, die senkrecht über ihm steht, 1000 und mehr Meter hoch, klappt bei mir die Kinnlade runter. Wenn er im nächsten Satz mit Worten meinen Blick nach unten in scheinbar endlose Leere richtet, dann fühle ich die Ausweglosigkeit haut nah, die ich empfunden hätte, wenn ich an seiner Stelle dort im Fels gehangen hätte. Seine Exposition als Extremabenteurer zu vermitteln, das beherrscht Reinhold Messner nach wie vor aus dem Effeff. Auch in seinem neuesten Buch „Über Leben“ lässt Reinhold Messner seine Leser in der Rolle von Normalos an seinen Abenteuern teilhaben. Insofern nichts Neues. Aber erstens merkt man inzwischen sehr deutlich, dass auch ein Reinhold Messner mit dem Alter allmählich die Perspektive wechselt. Seine Extreme betrachtet er zunehmend im Rückblick. Das finde ich sehr sympathisch. Und zweitens stößt man hier neben aller Hybris (oberflächlich betrachtet) immer wieder auf recht bodenständige Gedanken, die das Buch auch für Heimatwanderer interessant macht. Deshalb stelle ich das neue Messner-Buch hier im Blog vor.
„Über Leben“ ist ein autobiographisches Buch. Mehr oder weniger chronologisch hangelt sich Messner durch sein Leben. Entlang an zentralen Lebensbegriffen. Von Kindheit über Angst, Gefahr und Glück bis Tod. Von Trauer über Gefühle, Sinn bis Schicksal. Von Neuanfang über Stil, Altern bis Zuletzt. Um nur einige (Be)Griffstellen exemplarisch zu nennen. Wie schon in den Büchern zuvor, geht es ihm immer wieder darum, sein Tun zu erklären: kühne Ideen in die Tat umsetzen, sich nicht unterordnen wollen, selbstbestimmt leben, gegen Willkür und Gängelung eintreten, herausfinden, wie der Mensch tickt. Insofern auch hier nichts Neues.
Was macht dieses Buch dennoch lesenswert? Es sind die Blicke hinter die Heldenkulisse, die Reinhold Messner gewährt. Er serviert sie nicht auf dem Tablett. Sondern häppchenweise. Mal hier mal dort. Man muss sich Zeit nehmen. Worten, Stimmungen, Bedeutungen zwischen den Zeilen nachgehen. Die 335 Seiten nicht in einem Rutsch lesen. Sondern immer dann, wenn Zeit und Muße ist, das Buch irgendwo aufschlagen. Sich festlesen. Überblättern. Ins Inhaltsverzeichnis springen. Einen Begriff als nächsten Einstieg wählen, der interessiert, vielleicht mit dem eigenen Leben zu tun hat. Das typische Vorgehen beim Erkunden und Entdecken. Dann kommt man den eigentlichen Motiven des Grenzgängers Reinhold Messner näher als in seinen bisherigen Büchern. Aber auch für sich selbst kann man einiges herausholen aus diesem Buch. Sogar als Mittelgebirgs-Wanderin! ;-)
Am liebsten lese ich die Kapitel „Wachsamkeit“ (Orientierung), „Einsamkeit“ (Alleinwandern/Wandern in der Gruppe), „Freiraum“ (Kunst des Lebens lernen) und „Gehen“ (Einheit von Kopf und Körper). Dort finde ich meine eigenen Empfindungen, Motivationen als Wanderin treffend in Worten ausgedrückt.
Man könnte was lernen aus „Über Leben“. Bei aller Unterschiedlichkeit habe ich Reinhold Messmer als einen Seelenverwandten entdeckt. Auch wenn ich mich in Sachen Bergleidenschaft eher in der Kategorie “Acht Tausender” als “Achttausender” verorte. ;-) Und immer wenn mir Alltag und Vernunftdenken meine Beweggründe, Motive und Inspiration zum Wandern vernebeln, dann werde ich in Zukunft dieses Buch zur Hand nehmen und mich wieder auf die Spur bringen. “Über Leben” ist kein Muss, sondern eine Möglichkeit. Probieren Sie es doch einfach mal aus.
„Sinnhaftigkeit muss nicht unbedingt mit Nützlichkeit zusammenhängen.“ könnte als Fazit zum Schluss das Thema dieses Buches auf den Punkt bringen.
Messner, Reinhold: Über Leben. Piper Verlag, 2014, 22,99 Euro
Sie erhalten dieses Buch in Ihrer Buchhandlung vor Ort oder online beim Verlag.
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