Lesen ist Unterwegssein im Kopf. Reisen dieser Art lassen sich ganz vorzüglich mit dem „Atlas eines ängstlichen Mannes“ des Österreichers Christoph Ransmayr unternehmen.
Siebzig Geschichten. Siebzig Orte auf der ganzen Welt, an denen der Autor gelebt hat, die er bereist oder durchwandert hat. Die Menschen in seinen Erzählungen hat Ransmayr persönlich getroffen, schreibt er im Vorwort: „…Menschen, die mir geholfen, die mich behütet, bedroht, gerettet oder geliebt haben.“
Ein persönliches Buch, das jedoch nach außen gerichtet, offen erzählt. Ransmayr ist Vermittler, nicht Grund. Er lässt seine Leser erleben. Lässt sie durch seine Augen schauen, lässt sie die Atmosphäre der Situation selbst spüren, bringt es fertig, ihnen das Gefühl zu vermitteln, tatsächlich selbst an diesen siebzig Orten zu sein. Und damit wäre das Außergewöhnliche, das Faszinierende des Buches schon grob umrissen; auf den Punkt gebracht. Wie macht er das bloß?
„Ich sah…“, so beginnt jede Episode. Hier an dieser Stelle, an einem bestimmten Blickpunkt startet jede Reise. Mit diesem konkreten Moment nimmt Ransmayr den Faden auf und beginnt die Geschichte zu spinnen. Ruhig, unaufgeregt und doch vom ersten Wort an knisternd. Er lässt uns die Schönheit der Natur erleben, ohne dem Bösen, Schrecklichen, Grauenvollen auf diesem Erdball auszuweichen; unaufgeregt, auf Augenhöhe mit dem Schönen, aber ohne Schönrederei.
Da ist der gestürzte Kellner in der kalifornischen Küstenstadt San Diego, der in Scherben von Gläsern, Flaschen und Tassen liegt in einem Straßencafe auf einem Hügel. In genau der Nacht als der Komet Hale-Bopp dort vorüberziehen wird und alle Augen zum Nachthimmel emporblicken an dem die ersten Sterne glitzern. Berührend, tiefergehend als eine bloße Anekdote, ist die Story, die Ransmayr aus diesem Stoff webt.
Da ist der Nachthimmel über dem griechischen Taygetos-Gebirge, dessen „funkelnder Friede (…) etwas Trügerisches, ja Bedrohliches…“ hat, das der Erzähler zunächst nicht benennen kann. Atemraubend was tatsächlich dahintersteckt.
Da sind die „vier einmotorigen Militärmaschinen im Tiefflug über der glitzernden Wasseroberfläche des Stausees San Sebastian im bolivischen Hochland“ und der ganz spezielle „Urwald“ in dem Ransmayr dort seine Rettung findet.
Da ist der Vogelstimmensammler auf der chinesischen Mauer, die gestaltlosen, turmhohen wirbelnden Gespenster über den Lava- und Steinwüsten über dem menschenleeren Hochplateaus Islands und der Freund, der Wegzeichen fotografiert. Da ist der schlafende Mann auf einer Uferwiese der Traun im oberösterreichischen Alpenvorland. Da ist die schmale Hand des Bootsmannes Sang in Laos: „Sie ruhte für einen Atemzug, vielleicht einen Augenblick länger, auf der Schulter seines Sohnes Lae, der neben ihm am Steuerruder eines Langbootes stand.“ An diese Tag wird Sang nach 30 Jahren vom Mekong Abschied nehmen und zurückkehren in seine Heimat, ein verwüstetes, baumloses Land in der Provinz.
Und schließlich ist da die Walkuh „die in etwa dreißig Meter Wassertiefe schlafend im Blau des Meeresgrundes lag.“ Vor den Küsten Haitis und der Dominikanischen Republik. Hat Sie im Meer schwimmend schon mal eine solche fünfzehn Meter lange und etwas dreißig Tonnen schwere Riesin mit ihrem Blick gestreift? Schauen Sie ihr in der Geschichte „In der Tiefe“ direkt in die Augen!
Reisen spielt sich im Kopf ab, behauptet der Müßiggänger Dan Kieran in seinem Buch „Slow Travel“. Christoph Ransmayrs Reiseberichte sind der beste Beweis dafür. Im Gegensatz zu eigenen vergeblichen Versuchen den Lieben zu Hause mit Hilfe von Urlaubsfotos das Erlebte live und in Farbe eindrücklich zu vermitteln, gelingt es dem mit vielen Preisen ausgezeichneten Schriftsteller und langjährigen Geo-Journalisten mit bloßen Worten die Lesern an seinen Erfahrungen unmittelbar teilhaben zu lassen.
Ob sich die Geschichten im „Atlas eines ängstlichen Mannes“ wirklich wortwörtlich so abgespielt haben, wie sie Ransmayr schildert, oder ob der Autor kunstvoll seine Erlebnisse und Eindrücke verwoben, verdichtet auf den Punkt gebracht hat, sei dahin gestellt. Auch wenn es Schreiber geben soll, die eindrucksvoll von Orten berichten, an denen sie nie waren, dem Christoph Ransmayr, meine ich, können wir getrost glauben, dass er wirklich selbst an allen Orten war. „Mit einer Ausnahme: Ein einziges Mal kommt (…) ein Ort zur Sprache, an dem ich niemals war, der mir aber durch die Beschreibungen meiner Frau vertraut geworden ist. Dass ich den Namen dieses Ortes für mich behalte, soll daran erinnern, dass wir vieles, was wir von unserer Welt zu wissen glauben, nur aus Erzählungen kennen und: dass (fast) jede Episode dieses Buches auch von einem anderen Menschen, der sich ins Freie, in die Weite oder auch nur in die engste Nachbarschaft und dort in die Nähe des Fremden gewagt hat, erzählt worden sein.“
Christoph Ransmayrs Geschichten sind wie Raketen in einem Feuerwerk. Von Beginn an voller Energie rauschen, zischen, knistern sie zu ihrem Höhenpunkt, versprühen mit lautem Knall glitzernd ihren Zauber, erlöschen still und sinken herab. Ihr Zauber aber bleibt für immer im Herzen der Leser hängen.
PS: Bleibt da noch die Frage nach der Bedeutung des Attributs “ängstlich” im Titel. Bin gespannt, wie sie es deuten werden! ;-)
Ransmayr, Christoph: Atlas eines ängstlichen Mannes. S. Fischer Verlag, 2012. 24,99 Euro
Das Buch ist im Buchhandel vor Ort oder auf der Verlagsseite online erhältlich.
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