„Es gibt Wanderer auf dieser Welt, die bleiben seelische Nomaden…“, schreibt der Schauspieler Paul Wegener über den Schriftsteller Joachim Ringelnatz. Ringelnatz verdingte sich in seiner Jugend als Matrose und malte später das Bild „Hafenkneipe“. Es hängt in der Ausstellung „Wortkünstler — Bildkünstler“, die zurzeit im rheinhessischen Ingelheim läuft. Gelungener Einstieg für einen Artikel über Kunst in einem Wander-Blog, oder?
Ich war heute in Ingelheim und habe mir die Zeichnungen, Gemälde, Collagen der Künstler angeschaut, die als Schriftsteller einen großen Namen tragen und außerdem von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen bildkünstlerisch Furore machten. Berühmtheiten. Das Universalgenie Goethe fehlt nicht.
Die farbkräftigen Ölgemälde von Wilhelm Busch gefallen mir gut. Im Stil der niederländischen Maler des ausgehenden 19. Jahrhunderts — ganz oft in den Landschaften zu sehen ein Rotfrack im Goldenen Schnitt. Als Signatur gedacht?
Ein Grinsen zaubern mir die Text-Bild-Collagen von Herta Müller ins Gesicht als ich näher rantrete, erkenne, was da überhaupt dicht an dicht an der Wand hängt und die Texte lesen kann. Akribisch, mit feinsinnigem Humor und mit einem mehr oder weniger zarten Schuss leicht saurer, klebriger Wahrheit versetzt — “Milch ist wie weißer Teer” -, zusammengesetzt aus Worten in unterschiedlicher Typo, die die Nobelpreisträgerin Tag für Tag aus Zeitungen und Magazinen ausschneidet. In ihrer Wohnung steht eine Kommode mit Schubladen, in denen sie die ausgeschnittenen Worte nach Anfangsbuchstaben sammelt; sehe ich später auf einem Foto in einem Kunstmagazin, das am Ausgang ausliegt.
Herta Müller schreibt mit diesen Wortschnipseln so Sätze wie: „Mutter schiebt ein Bonbon im Mund hin und her, Vater telefoniert mit den Fliegen…“ oder „Mutter schrieb, der Himmel ist ein Sieb und schneit ein Tupfenkleid von dem nichts übrig bleibt..“ Genial einfach.
Später Leichtwanderung durch die Gemarkung zwischen Ingelheim und Heidesheim unterhalb des Multatuli-Hauses. Einstieg zum Beispiel Höhe Heidesheimer Straße, Ecke Leingrubstraße. Dann über den asphaltierten Landwirtschaftweg bis nach Heidesheim und über einen Erd- und Sandweg zurück, oder schon bei der erste Gelegenheit links abbiegen und über einen gemütlichen Feldweg mit super Weitblick auf die andere Rheinseite zurück nach Ingelheim (ca. 8 bzw. 4 Kilometer). Die Kurzstrecke ist auf jeden Fall kinderwagentauglich. Einer meiner Lieblingsweg aus der Ingelheimer Zeit!
Die Quitten blühen. Sonst ist die Obstbaumblüte leider vorüber. Es hängen schon kleine grüne Kirschen. Im Rheingau drüben leuchten dafür hier und da mit breitem Borstenpinsel gesetzte rapsgelbe Rechtecke. Eine Frau in einer kleinen Wandergruppe vor uns schwingt beide Arme abwechselnd bis über den Kopf; als hätte sie meinen Artikel über Beweglichkeit gelesen und probierte ihre aus, denke ich.
Für Kunst-Nomaden: Die Ausstellung „Wortkünstler — Bildkünstler“ im Alten Rathaus in Ingelheim ist noch bis 7. Juli 2013 offen. Das Audio-Guide-Konzept mit u.a. literarischen Zitaten finde ich gelungen und kurzweilig. Zur Ausstellung ist ein schöner ausführlicher Katalog erschienen mit Bildern der Ausstellung und weiterem Material. Nach dem Kunstgenuss lädt das Museumscafe zum Verweilen und Erfrischen unter alten Kastanien ein.
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