Über die Herausforderungen eines Sommers als Saisonkraft in den Schweizer Alpen, vom Dranbleiben und den Weg finden
Träume. Seit langem trage ich mich mit diesem Gedanken: Einen Sommer lang auf einer Alm in den Alpen wohnen und arbeiten. Ich stelle mir das rund vor. Überschaubarer Raum, klare Aufgaben, Wind und Wetter, nach anstrengender Arbeit zufrieden und müde essen und ins Bett fallen. Ist es so tatsächlich?
Wie es in Wirklichkeit sein kann, ist in Nicola Reiters Buch „Firn – Aufzeichnungen am Gletscher“ zu lesen. Die Freiburgerin hat diesen Traum in die Tat umgesetzt. Acht Wochen Arbeit auf einer Hütte des Schweizer Alpenvereins am Rande eines Gletschers auf 2500 Metern, 600 Meter über der Baumgrenze. Laufzeit vom Tal fünf bis sechs Stunden. Die Höhendifferenz beträgt über tausend Meter. Innerhalb weniger Minuten katapultiert sie der Helikopter mit ihrem Rucksack und diversen Lebensmittelkisten, die der Hüttenwirt Pius praktischer Weise zeitlich passend geordert hat, von ihrem gewohnten Leben in eine andere Welt – man könnte fast sagen: auf einen anderen Stern. „Während in Windeseile die Kisten , mein Rucksack und ich selbst ausgeladen werden, setzt der Hubschrauber nicht auf dem Boden auf…Grashalme werden geknickt, Staub und kleine Steine fliegen durch die Luft, meine Haare flattern mir wild vor den Augen und verwehren mir die Sicht… An eine Mauer gelehnt finde ich mich wieder, inmitten von Kisten. Neben mir steht Pius. Mit ihm werde ich die kommenden acht Wochen verbringen.“
Diese Wochen hat Nicola Reiter in einem Tagebuch dokumentiert. Jeder Eintrag beginnt mit Datum, Wetterbericht und Anzahl der Wandergäste des jeweiligen Tages. Die maßgeblichen Parameter für ihr Zeitempfinden an diesem Ort. Schlechtes Wetter heißt wenig bis keine Gäste, bedeutet wenig Arbeit, bedeutet, die Zeiger auf der Uhr schleichen. Und umgekehrt. In diesem Sommer lässt sich die Sonne selten blicken. Heiße Tage enden mit heftigen, blitzgewaltigen Gewittern und Regengüssen. Bereits Ende Juli wird es herbstlich. Anfang August fällt der erste Schnee.
Nachdem die Kleidung sorgfältig im Schrank gestapelt, die Vorräte bedacht im Keller eingelagert, Pius‘ Plan, die Hütte gründlich auf- und umzuräumen, in die Tat umgesetzt, die defekte Tiefkühltruhe, die den gesamten Fleischvorrat für eine Saison zunichte zu machen droht, per teurem Helikopter-Einsatz durch eine neue ersetzt, und die Hütte inventarisiert ist (einzusehen im Anhang des Buches), greift an den zahlreichen Nebel‑, Gewitter‑, Sturm- und Schneetagen (eindrücklich täglich mit Fotos aus ein und derselben Perspektive festgehalten) erbarmungslos die Langeweile Raum. Gäste sind da eine willkommene Abwechslung, um so größer die Enttäuschung, wenn sie früher als erwartet aufbrechen: „Ich muss schwer schlucken, als unsere beiden Gäste ihr Frühstück beenden und sich fertig machen, um kurz darauf im Nebel zu verschwinden. »Bleibt», will ich ihnen am liebsten hinterherrufen, »bleibt noch ein bisschen«.
Als dann irgendwann selbst Pius einen Koller zu bekommen scheint, kauzig, spleenig und lethargisch wird, sich zurückzieht, der Fernseher den Geist aufgibt und die Solaranlage nicht mehr lädt, kracht es zwischen den beiden Hüttenbewohnern gewaltig. Danach vergehen die Tage, die vorher zäh verstrichen, „moderat“:. Jedoch: „Sie fliegen nicht gerade dahin.“
Langeweile, nette Gäste, nervige Gäste, tollkühne, sich selbst überschätzende Möchtegern-Bergsteiger, unterhaltsame Übungsflüge des Militärs, Unglücke am Gletscher, verfaultes Gemüse, Küchendauerdienst, SMS und kurze Telefonate in die Heimat, Gewirr der Schweizer Dialekte, mal einen Tag Urlaub im Hotel einige 100 Meter unterhalb der Hütte sind die eine Seite dieser Geschichte.
Die andere Seite der Story ist die Natur und der Abenteuergeist der Autorin. Schon ihre Anreise hatte sie sich als eine Wanderung gedacht: „Mir wäre es lieber gewesen, zu laufen, aber Pius hatte meine Ankunft von langer Hand geplant.“ Mit gespitzten Ohren hört sie den Tourenberichten der Gäste zu: „ Ich bin neidisch und will auch lieber die Gipfel besteigen, anstatt in der Küche zu stehen.“ Sie folgt staunend den Erläuterungen des Wirts der Nachbarhütte, der sich am liebsten „abseits der markierten Pfade bewegt.“ Und den „ein Hauch von Abenteuer umweht“. Nach einigen Tagen ergibt sich die Gelegenheit die Gegend zu erkunden: „Für heute habe ich mir vorgenommen, bis zu der Brücke zu laufen, die von der Hütte aus nur als kleiner Punkt erkennbar ist…Dort beginnt der Wald, und das steile felsige Gelände geht in eine sanfte liebliche Hochebene über. Ich will herausfinden, ob ich in den zwei Stunden Mittagspause, die mir Pius zugestanden hat, die Distanz und die Höhenmeter schaffe.“ Die Moment im Gelände sind das Eigentliche. „Ich lenke meine Schritte meist in einem weitläufigen, beliebigen Bogen durch die ausladende Steinlandschaft…Mit dem Überqueren der wunderbar weichen, federnden Fläche beende ich meine Variation.“ Und dann ist da natürlich noch der Gletscher, der „schmutzig weiße, ramponierte Riese“.
Nicola Reiters Aufzeichnungen offenbaren einen ungeschönten Blick hinter die Kulissen des scheinbar idyllischen Berghütten-Lebens in einer kargen, unwirtlichen Gegend. Bei aller moderner Technik, die heute zur Verfügung steht, bleibt das Leben an einem solchen Außenposten der Zivilisation offenbar eine Herausforderung. Sich aus dem Weg gehen, sich ablenken mit TV, Telefon oder gar Lesen (bei Kerzenlicht) ist nur bedingt möglich. Die Menschen werden auf sich selbst zurück geworfen und sind aufeinander angewiesen. Das ungewöhnlich schlechte Wetter, mit dem selbst der erfahrene Pius nicht gerechnet hat, und der nicht einfache Charakter des Hüttenwirts bringen das Fass immer wieder zum Überlaufen.
Darüber hinaus gewährt dieses Tagebuch einen Blick in die Gefühlswelt der Schreiberin. Das sich Auseinandersetzen, Reiben an den Umständen, die Neugier und Abenteuerlust, die Momente der Entspannung, des Weichens der Beklemmung, das Aushalten von Widrigkeiten, das Lösungen-suchen, das Dranbleiben, die Flinte trotz allem Ungemach nicht ins Korn werfen: Pius merkt Nicolas Unbehagen und schlägt ihr nach dreiviertel der Zeit eine Verkürzung der Arbeitszeit vor. Erstaunt stellt sie fest, dass sich ihre Begeisterung über dieses Angebot in Grenzen hält. Da ist plötzlich so etwas wie „Ehrgeiz“.
„Firn – Aufzeichnungen am Gletscher“ ist mit viel Liebe und Qualität von der Autorin selbst gestaltet und von Spector Books in Leipzig verlegt worden. Es öffnet mit klaren Worten und schnörkelloser Sprache auf 138 Tagebuchseiten, 15 Seiten Inventarliste und 93 Seiten mit Schwarz-Weiß-Fotografien allen Abenteurerinnen und Abenteurer die Augen, die von einem Hüttensommer in den Alpen träumen. Für Unerschrockene ist das Buch eine Art Leitfaden, der zeigt, wo die Herausforderungen, Fallstricke und Chancen liegen und was den Reiz eines solchen Vorhabens ausmacht.
„Firn“ könnte als Negativ-Beispiel missverstanden werden. Nach dem Motto „einmal und nie wieder“, oder „lasst die Finger weg“. Aber es kommt anders. Das Hintertürchen findet sich ganz am Schluss zwischen Inventarliste und Fotografien, auf einer nicht nummerierten Zwischenseite unten in zwei Sätzen. Mehr verrate ich nicht.
Das Schlusswort lasse ich der Autorin: „Nachdem ich ein Stück des Wegs gegangen bin, bleibe ich stehen und schaue noch einmal zurück zur Hütte. Pius ist bereits aus dem Blickfeld verschwunden…Ich frage mich, ob es notwendig war, so lange hier zu bleiben. Als ich weiterlaufe, spüre ich, wie mit der Bewegung die Kälte langsam weicht.“
Dank an den Spector Books-Verlag für das Rezensionsexemplar.
Firn — Aufzeichnungen am Gletscher, Nicola Reiter, Spector Books, Leipzig 2012, 24 Euro
Buch bei Spector Books bestellen.
Schreibe einen Kommentar