Im Zusammenhang mit unserer Schiffsreise entlang der norwegischen Küste Anfang Juli, kommt mir eines meiner Lieblingsbücher in den Sinn. „Schiffsmeldungen“ von E. Annie Proulx.
Der Roman erzählt, wie ein Mensch, nah am Abgrund, Chancen ergreift, Herausforderungen annimmt, lebensgefährliche Fehler begeht, daran wächst, Dingen, die er spürt, nachgeht, neue Erfahrungen macht, sich Wirklichkeiten der Vergangenheit bewusst wird und schließlich bis ins tiefste Innere bereit ist, Altes loszulassen.
Es geht um Quoyle. Geboren in Brooklyn, „aufgewachsen in einem Sammelsurium öder Städte im Norden des Staates New York…Stolperte durch seine Zwanziger in die Dreißiger, lernte seine Gefühle von seinem Leben zu trennen, rechnete auf nichts…Auffüller von Süßigkeitenautomaten, Nachtverkäufer in einem 24h-Laden, drittklassiger Reporter. Sitzen gelassener, gehörnter Ehemann, Witwer.”
Nach dem Verkehrsunfalltod seiner umtriebigen Frau Petal, dem Selbstmord seiner Eltern, arbeitslos, steckt er mit sechsunddreißig in der Sackgasse. Das einzige, was ihn am Leben hält, sind seine zwei Kinder Sunshine und Bunny. Die Schwester seines Vaters taucht auf. Agnis Hamm. Eine beherzte, ältere Dame auf der Durchreise nach Neufundland, der Heimat der Quoyles. Auch sie ist vom Schicksal gebeutelt, will dort auf der Insel der Vorfahren als Yachtpolsterin noch mal neu anfangen. „Bleib‘ bei uns…Ich weiß nicht, was ich tun soll.“, bittet Quoyle sie. Wider Erwarten sagt sie zu: “Ein paar Tage. Um die Dinge wieder ins Lot zu bringen.“ Agnis schlägt Quoyle vor mit den Kindern mit nach Neufundland zu kommen: „Du hast eine Chance, noch mal ganz von vorn anzufangen.“
Er und die Kinder kommen mit, schließlich haben sie nichts mehr zu verlieren. Über alte Verbindungen hat Quoyle sogar einen Job als Reporter beim dortigen Lokalblatt in Aussicht. Dort sucht man jemanden mit Verbindung zur Seefahrt. Quoyle hat keine Ahnung von Schiffen, kann nicht schwimmen — aber sein Großvater war Robbenjäger. Das reicht.
Die Dinge nehmen ihren Lauf. Quoyle beginnt Dinge zu tun, die er noch nie getan hat. Mit einem Boot fahren, ein Dach reparieren, als Reporter über Autounfälle schreiben. Egal, ob es welche gegeben hat oder nicht, und obwohl ihn bloß der Gedanke an Blut und sterbende Menschen schaudern lässt. Und, weil „Boote in seiner Familie liegen“, die Liste der im Hafen eingehenden und ausgehenden Schiffe — die Schiffsmeldungen. Sieht die große, ruhige Frau eines Tages auf der anderen Straßenseite. Lernt Menschen kennen, die Geschichten erzählen. Wird neugierig. Hat plötzlich eigene Ideen. Schreibt mit einem Mal selbst Geschichten – über besondere Schiffe . Plötzlich fließen sie ihm nur so aus der Feder und lassen die Leute vor Begeisterung beim Verleger anrufen. Er, der in seinem früheren Leben Gemeindedinge in Text goss, die sich wie Beton lasen. Anfangs einerseits wild entschlossen – „Doch genau das hatte er gewollt. Sturm und Gefahr. Schwierige Aufgaben. Erschöpfung“ — und andererseits voller Selbstzweifel: “Ich schaff‘ den Job nicht.” “Ich will kein Boot.” Kauft sich dann, weil ihm alle ständig in den Ohren liegen – „Beschaff Dir ein Boot“ — , schließlich unüberlegt eines für 50 Dollar, Geld, das kaum für ein Abendessen für vier reicht und ertrinkt fast damit.
„Zehn Minuten später, als er aus dem Schutz der Leeküste und im Wind war, wusste er, dass er einen Fehler begangen hatte. War mit seine Boot nie in so rauem Gewässer gewesen… Es bäumte sich auf. Kenterte. Und Quoyle schwebte unter Wasser. In fünfzehn schauerlichen Sekunden lernte er gut genug schwimmen, dass er das gekenterte Boot erreichen und sich an den Schaft des Außenborders klammern konnte… (das Boot entgleitet ihm) Wie dumm, dachte er, wie dumm, zu ertrinken, wo die Kinder noch so klein sind.“
So weit über den Inhalt. Zu viel will ich ja nicht verraten.
Schiffsmeldungen ist ein Roman. Eine Erzählung mit vielen Geschichten: Wettergeschichten, Schiffsgeschichten, Schauergeschichten, Familiengeschichten und nicht zuletzt einer Liebesgeschichte (die große, ruhige Frau!). E. Annie Proulx verwebt sie meisterhaft, untergründig, rücksichtsvoll, behutsam. Wie, wenn man beim Baden im See mit den Füßen unerwartet eine eiskalte Unterwasserströmung streift, konfrontiert sie den Leser auch mit Schrecklichem, wie z.B. die Inzest-Vergewaltigung der Tante als Kind. Sie versteht es, dem Land seinen Charme zu lassen, ohne Natur und soziale Verhältnisse im modernen Neufundland zu beschönigen. Sie macht Land und Menschen zu etwas Eigenem; wunderbar, manchmal eklig und fremd, gruselig, sonderbar, liebenswert.
Schiffsmeldungen ist ein Buch vom „Loslassen“: Loslassen vom alten Leben, von Vorstellungen über warmes Wetter und Jahreszeiten, überkommenen Traditionen, einer haltenden Hand, Liebgewonnenem, Täuschungen, Erwartungen, Ängsten. Und von Möglichkeiten: „Denn wenn Jack Buggit dem Einmachglas entkommen konnte, wenn ein Vogel mit einem gebrochenen Genick wegfliegen konnte, was mochte dann sonst noch alles möglich sein? Wasser konnte älter sein als Licht, Diamanten in heißem Ziegenblut zerspringen, Berggipfel kaltes Feuer von sich geben, Wälder mitten im Ozean auftauchen,…, dass der Wind in einem Stück verknoteter Schnur eingesperrt wird.“
Schiffsmeldungen erschien 1993. E. Annie Proulx wurde dafür mit allen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Pulitzerpreis. Zurecht, wie ich finde. Zurecht.
Schiffsmeldungen, E. Annie Proulx, 1993
Übrigens wunderbar gelesen von Matthias Brandt in der Brigitte-Hörbuch-Reihe “Starke Stimmen”. Vorher aber unbedingt das Buch lesen!
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