Über die regenerative Wirkung von Aktivität und Erfahrung in der Natur
Wandern tut gut. Stimmt. Aber warum? Auf der Suche nach Antworten stieß ich vor einiger Zeit auf Hugo Kükelhaus. Seine Grundannahmen: 1.) „Nicht das Gehirn macht den Menschen aus, sondern die Gesamtheit aller Organe (Kopf und Körper).“ 2.) Im Menschen sind alle Fähigkeiten, die er zum Leben braucht, angelegt, aber sie stehen nicht per se zur Verfügung. Sie müssen gebildet, gefördert und gefordert werden. „Nicht Bewegung, Anstrengung ermüden, sondern das sich zu wenig bewegen.“ Das heißt: Wandern erfüllt ein Grundbedürfnis. Es bringt uns Kopfmenschen in Balance und in die eigene Kraft.
Das Zauberwort heißt Herausforderung!
Hellhörig wurde ich deshalb gleich als ich diesen Klappentext las: „Den Körper fordern — die Heilung fördern“. Das schien zu dem zu passen, was ich bei Kükelhaus gefunden hatte. Ruck zuck hatte ich das Buch „Die Macht der Bewegung“ von Freerk Baumann in den Händen.
Der Autor ist Sportwissenschaftler. Er arbeitet als Sporttherapeut mit Krebspatienten in Reha-Einrichtungen. Seine Kindheit verbrachte er auf dem Land. Auf Streifzügen und Abenteuern mit Freunden und Geschwistern in Wäldern und Gegenden entwickelte er eine besondere Beziehung zur Natur, eine entsprechende Sensibilität ihr gegenüber und seine Liebe zur Bewegung. Baumann bezeichnet seine Kindheit als die wichtigste Zeit des Lebens. Hier liegen die Wurzeln für das Projekt, das er in seinem Buch beschreibt.
Es geht um alternative Reha-Maßnahmen. Baumann beobachtet bei seinen Patienten statt Erholung und Regeneration, Resignation, Depression, Mutlosigkeit, Unsicherheit, Verlust des Vertrauens in den eigenen Körper und in die eigene Leistungsfähigkeit. Gleichzeitig erkennt er bei ihnen eine tiefe Sehnsucht nach Bewegung und Natur. Er macht zwei entscheidende Faktoren aus, die Menschen nach einer schweren Erkrankung beeinflussen: Erstens: aus Ängsten geborene Unsicherheit. Zweitens: Verlust der Bindung zur Natur.
Er beginnt zu überlegen: Was kann Bettruhe und Bewegungsmangel entgegen gesetzt werden? Wie kann Selbstvertrauen und Aktivität gefördert werden. Baumanns Rezept: Bewegung in der Natur über einen längeren Zeitraum hinweg. Warum?
Baumanns Erklärungen für seine Methode:
- Die Macht der Bewegung: „Bewegung ist die ureigenste Form der Verarbeitung von Schmerz und Trauer, die bereits seit Jahrtausenden existiert.“ Für die meditative Wirkung des Wanderns hat meditative Wirkung gibt es zwei Theorien:. Erstens: Muskeln besitzen Erinnerungsfelder. Bei prägenden negativen Erlebnissen nehmen wir unbewusst eine bestimmte Körperhaltung ein. Diese Haltung wird gemeinsam mit der Erinnerung abgespeichert, die dann bei langen Wanderungen zutage tritt. Zweitens: Körperliche, ausdauerorientierte Arbeit aktiviert abgespeicherte Erinnerungen im Gehirn. Auf diese Weise kommen verschüttete Erinnerungen wieder hoch. „Fakt ist: Durch das rhythmische Gehen werden in den Gedanken verankerten negativen Erlebnisse losgelöst und nach und nach verarbeitet. Der Stress legt sich.“, resümiert Baumann.
- Die Macht der Natur: Aus evolutionsbiologischen Hintergründen bilden grüne, übersichtliche, >schöne< Landschaften echte, nachweisebare Erholung und Regeneration. Zum anderen sind die in den letzten Jahren und Jahrzehnten geschaffenen >künstlichen Reize< für den Menschen neu und ungewohnt – und führen zu Stress. Der Aufenthalt in der Natur kann da ein Gleichgewicht sein.
- Die Macht des Wanderns: Studien belegen die ganzheitlichen und intensiven Einflüsse des „sanften Fußsports“ auf die Gesundheit des Menschen.
- Die Macht der Zeit: „Es scheint so, als ob 40 Tage notwendig sind, um Kräfte zu schöpfen, sich zu besinnen, zu trauern, sich vorzubereiten etc.“, fasst Baumann seine kulturhistorischen Analysen zusammen.
Auf der Basis dieser Erkenntnisse und Überlegungen entwickelt Freerk Baumann sein alternatives Reha-Programm: mehrwöchige Wanderungen in der Natur.
Der Forscher beschreibt, analysiert und resümiert in seinem Buch drei wissenschaftlich begleitete Bewegungsprojekte: ein „Testballon“ mit 11 Tumorpatientinnen im winterlichen Norwegen, eine siebenwöchige Wanderung (800 Kilometer!) von 12 Brustkrebspatientinnen auf dem Jakobsweg in Spanien und eine fünfwöchige Alpenüberquerung (550 Kilometer) von 7 Prostatakrebsbetroffenen.
Wichtig: Im Mittelpunkt des Interesses stehen nicht Gesundheit und Fitness, sondern Aktivität und Erfahrung in der Natur!
Ausführlich berichtet der Autor über Planungen, Rückschläge, Vorbereitungen, Testprojekte, die Suche nach interessierten Patienten sowie nach bereitwilligen Sponsoren bis zu dem Tag als er die erste Gruppe am Flughafen vor der Sicherheitsschleuse verabschiedet: 12 Brustkrebspatientinnen in Wanderkluft und Rucksack auf dem Rücken. Was dann in den nächsten Wochen folgt, Durststrecken, karge Unterkünfte, Regen, Nebel, Blasen an den Füßen, karge Unterkünfte, herzliche Menschen, Einsamkeit, Heimweh, Ängste und die tiefe Freude am Abend wieder eine Etappen geschafft zu haben, das beschreiben Teilnehmerinnen in wirklich authentischen Tourenberichten. „Wieder Regen und Wind. Ich weinte oft. Mir war es trotz Laufen kalt. Und dieser Matsch, wieder und wieder.“ Allein schon für diese Offenheit und Ehrlichkeit lohnt es sich, dieses Buch zu lesen.
Für Freerk Baumann sind die Touren ein Forschungsprojekt im Rahmen seiner Doktorarbeit. Für die Teilnehmer eine Grenzerfahrung, die ihr Leben und ihre Einstellung zum Leben grundlegend ändert: „Ich kann nicht, das gibt es für mich nicht mehr!“ Die Berichten sind durchzogen von Begriffe wie: Lebensqualität, Selbstvertrauen, innere Ruhe, Gefühl von Freiheit, Sinn, Klarheit, Energie, gute Laune, Unabhängigkeit, angenehm erschöpft.
„Die Macht der Bewegung“ ist ein lesenswertes Buch für all‘ jene, die den Dingen gerne auf den Grund gehen, die genauer wissen wollen, was es mit dieser Macht auf sich hat. Kranke wie Gesunde finden hier interessante Hintergründe und Erklärungen zur regenerativen und stärkenden Wirkung des Wanderns; geschrieben in einfacher und anschaulicher Sprache.
Neben den fundierten wissenschaftlichen Fakten haben mir besonders die eindrucksvollen Erfahrungsberichte der Projektteilnehmer gefallen. Sie machen klar: Selbstbestimmtheit, die Bewältigung von Herausforderungen, Achtsamkeit – und körperliche Aktivität in der Natur sind ein Weg zu innerer Ruhe, Energie, Gesundheit und Ausgeglichenheit. Und: Wandern ist eine sanfte Bewegungsform, die es auch Ungeübten, nicht so leistungsfähigen Menschen ermöglicht, diesen Weg zu gehen!
Wanderinteressierte, die ein solches Projekt in Eigenregie durchführen wollen, erhalten zum guten Schluss wertvolle Grundlagen, Tipps und Checklisten mit auf den Weg.
Die Macht der Bewegung. Freerk Baumann, Irisana Verlag, 2009
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