Ich gehe durch Grup­pen von son­nen­mü­den Touris­ten mit Teleskop­stöck­en, sportlich gefed­erten Kinder­wa­gen, Rol­lkof­fern. Rad­fahrer haben ihre Helme an die Lenker gehängt und hal­ten die Gesichter in die Sonne. Es ist warm und riecht nach Schnee. Hier möchte ich Ferien machen, denke ich. Und dann erschrecke ich für einen Moment. Denn das ist vor­bei.” So begin­nt Ange­li­ka Overath ihr Sen­ter Tage­buch. Mit ihrer Fam­i­lie ist die Schrift­stel­lerin und Repor­terin vor einiger Zeit dort hin gezo­gen, wo andere Leute Urlaub machen — wo sie selb­st regelmäßig lange Jahre ihre Ferien ver­bracht hat: in das Schweiz­er Bergdorf Sent im Oberengadin.

Alle Far­ben des Schnees”, ein Buch mit diesem Titel muss ich natür­lich lesen. Gle­ich zwei Worte elek­trisieren mich: Farbe und Schnee. Ich habe einige Monate auf die Taschen­buchaus­gabe gewartet. Im Som­mer kam das Buch endlich! Und?

Alle Far­ben des Schnees” ist ein ruhiges, bedacht­es, beobach­t­en­des Buch. Die Autorin beschreibt das erste Jahr in der neuen Heimat. Die Men­schen sprechen Rätoro­man­isch. Mann und Sohn kom­men recht schnell mit den neuen Worten zurecht. Sie als Frau der Worte tut sich schw­er, bleibt dran, find­et ihren Zugang über Gedichte in der frem­den Sprache.

Alle Far­ben des Schnees” ist ein Blick hin­ter die Kulis­sen. Ange­li­ka Overath erzählt uns, wie sich Wahrnehmung und Lebensweise ändern, wenn das Ferien­dorf in den Bergen zum fes­ten Wohn­sitz wird.” Wussten Sie zum Beispiel, dass im Früh­jahr, wenn der Schnee geschmolzen ist, an ein­er Art Dreck weg”-Tag gemein­schaftlich die Wiesen rund ums Dorf von den Übrig­bleib­sel der Ski­sai­son gere­inigt wer­den, die dann zu Tage treten. Was sich da so alles findet.…

Alle Far­ben des Schnees” ist für mich vor allem ein Buch der Far­ben. Kann Weiß far­big sein? Klar. Mehl zum Beispiel: Wirk­lich, es gibt zehn ver­schiedene Weißtöne. Das eine Mehl ist schneeweiß, ein anderes wie Milch, das näch­ste hat die Farbe der Birken­rinde; dann kommt eines mit einem Stich ins Gel­bliche,…” Und der Schnee? Mit dem Schnee ändern sich die Far­ben. Wenn alles weiß ist, wird das Auge farbe­mpfind­lich. Schneeschat­ten, bläulich, grau, rosa, pfir­sich. Die bun­ten Schat­ten nehmen zu, je länger es weiß bleibt.”

Und am 5. Dezem­ber schreibt sie: “…Wir machen Ausstecher­le. … Rot, blau, gelb, grün, orange. Es gibt auch aufgelöste Schoko­lade zum Anmalen. Die Kinder steck­en die Pin­sel in die Farbe, in die Schoko­lade. Sie malen, leck­en die Pin­sel ab. Auf den Blechen wach­sen Gesellschaften von Ster­nen, Fis­chen, Herzen,…Katzen, Stein­böcke und Monde.” Farbe ist in diesem Buch der­art präsent, dass ich sie bald in allen Sätzen, Szenen, Sequen­zen sehe — auch ohne dass Ange­li­ka Overath sie nennt.

Und: Alle Far­ben des Schnees” ist natür­lich ein Buch über den Schnee. In Sent hat er das ganze Jahr — auch im Som­mer — Sai­son. Während es auch im Juni leicht vergänglich auf die sat­ten grü­nen Wiesen, den roten Klatschmohn flock­en kann, bleibt er im Okto­ber auch schon liegen, die darauf fol­gen­den Monate eh. Im März kann es heftig tauen, bis nur noch kleine Flächen liegen, im April kann er mit Macht zurück­kom­men und sich bis spät in den Monat behaupten. Wie er riecht, sich verän­dert, anfühlt, leuchtet und das Leben der Men­schen, ihr Miteinan­der, bes­timmt, darüber erfahren wir sehr viel in diesem ein­fühlsamen Tagebuch.

Mehr über das Buch und über das Dorf Sent kön­nen Sie auch bei Petra Schu­seil lesen:

Alle Far­ben des Schnees: Sen­ter Tage­buch, Ange­li­ka Overath, Ver­lags­gruppe Ran­dom House Taschen­buchaus­gabe, 2012